akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 431 / 21.10.1999

"Alle, die gegen AKWs sind, sollen aufstehn!"

"Gerhard, wir kommen" - bundesweite Demonstration am 13.11.1999 in Berlin

Wenn sich vom 22. bis 24. Oktober im Schulzentrum von Dannenberg die Bundeskonferenz der Anti-AKW-Bewegung trifft, dann könnte dies, so wird im Vorfeld gemunkelt, ein "historisches Datum" werden. Denn eigentlich war diese Bewegung in den letzten Jahren meist gar nicht das, was der Name versprach. Der Widerstand gegen den Betrieb von Atomkraftwerken spielte nur eine untergeordnete Rolle. Wirklichen politischen Druck entwickelte sich nur dann, wenn es gegen Castor-Transporte ging.

Herbstkonferenz der Anti-AKW-Bewegung

Diese "Anti-Castor-Bewegung" war sehr erfolgreich. Der Widerstand gegen die Transporte hat bewirkt, daß seit bald eineinhalb Jahren keine Atommüllzüge mehr durch die Republik rollen. Außerdem werden durch diesen Transportestopp die AKW-Betreiber in große Nöte gebracht, weil der interne Lagerplatz für abgebrannte Brennelemente nicht mehr ausreicht. In der ersten Hälfte des nächsten Jahres wird sich zeigen, ob die aus dem Stopp der Transporte erwachsene "Verstopfungsstrategie" der Bewegung funktioniert - denn dann müssen die ersten Reaktoren vom Netz, weil sie am eigenen Müll ersticken.

Fast unbehelligt von der Bewegung wurde allerdings in den letzten zwölf Monaten zuerst in Bonn und inzwischen in Berlin über die Zukunft der Atomkraft verhandelt. In der Analyse dessen, was sich in den sogenannten Konsensgesprächen abspielt, waren die TheoretikerInnen der Initiativen zwar immer auf Ballhöhe, aber wirklich eingreifen konnten die Aktiven nicht. Die schärfste Waffe blieb da oft die Presseerklärung. Und viele - zu viele - warteten auf den nächsten Castor.

Auf der Frühjahrskonferenz der Bewegung in Heidelberg wurde dann ein erster Versuch unternommen, dies zu ändern: Das Plenum beschloß eine bundesweite Anti-Atom-Demonstration für den Herbst (ak berichtete ausführlich). Doch bereits im Frühsommer war die Idee wieder gestorben. Es gab schlicht zu wenig Leute, die das Ganze auch vorbereitet hätten.

Erst in den letzten Wochen deutet sich eine Veränderung an. Zuerst machte es sich nur an Stimmungen fest. Immer öfter wurde in Gesprächen zwischen mehr oder weniger Aktiven deutlich, daß auch diejenigen, die zuerst wirklich Hoffnungen auf eine rot-grüne Ausstiegspolitik gesetzt hatten, inzwischen merken, daß sich ohne gesellschaftlichen Druck nichts bewegt. Dann äußerten sich mehr und mehr ProtagonistInnen öffentlich zu Wort.

Die großen Umweltverbände haben erkannt, welche Bedeutung dem Thema Atomkraft in der augenblicklichen Situation zukommt. Und sie sind nicht länger dazu bereit, dem grünen Bundesumweltminister den Rücken freizuhalten. In einer Pressekonferenz auf den Schienen des AKW Krümmel haben BBU, BUND, DNR, Greenpeace und NABU ihren Willen zum gemeinsamen Widerstand bekräftigt. Die Anti-Atom-ÄrztInnen von der IPPNW schrieben einen deutlichen Brief an alle Kreisverbände der Bündnisgrünen (vgl. ak 430).

Dort - an der grünen Basis - regt sich der Unmut immer deutlicher. Dabei wird der Atomausstieg langsam aber sicher zum entscheidenden innerparteilichen Knackpunkt. Die Frage lautet schlicht: Wozu sind die Grünen überhaupt mit an der Regierung? Und für viele ist die Atompolitik zum Gradmesser dieser Sinnfrage geworden.

Unter der Überschrift "Den Atomausstieg vom Konsens auf die Füße stellen" machen die im "Energiepolitischen Ratschlag" (EPR) und in der "Bundesarbeitsgemeinschaft Energie" zusammengeschlossenen grünen FachpolitikerInnen aus den Ländern Druck in Richtung Bundesregierung.

Grüne Basis wacht auf

Viele Grüne sind aufgewacht, als im September in der Zeitung zu lesen war, daß Anfang nächsten Jahres Castor-Transporte nach Ahaus rollen sollen. Ein Horrorszenario für die Partei: Der grüne Bundesumweltminister hebt den Transportestopp auf, der grüne Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz genehmigt den Transport und der grüne Polizeipräsident von Münster muß den Einsatz der Staatsgewalt organisieren. Und dies alles ohne ein einziges abgeschaltetes AKW und kurz vor den als besonders wichtig eingestuften Landtagswahlen in NRW.

Die Frankfurter Rundschau machte sich ans Zitate-Sammeln und wurde fündig: "Wenn im Frühjahr tatsächlich die ersten Castoren Richtung Ahaus rollen, ,können wir unseren Landtagswahlkampf gleich schmeißen', warnen nordrhein-westfälische Parteimitglieder, und auch auf der Bundesebene dämmert's: ,Mir fehlt die Fantasie', sagt der Alt-Grüne Stratege Ralf Fücks, ,wie die Partei das durchstehen soll.' Andere sagen es drastischer: Das Gelingen oder Nichtgelingen eines Atomausstiegs wird nicht einmal mehr eine Zerreißprobe werden, ,das bricht den Grünen das Genick'."

Das alles war noch vor Tokaimura. Der schwere Unfall in der japanischen Uranfabrik war dann für viele der Tropfen, der das Faß der Ungeduld zum Überlaufen brachte. Nachdem ein Jahr lang in der Öffentlichkeit fast nur noch über Restlaufzeiten diskutiert wurde, waren plötzlich wieder Halbwertszeiten Thema. Statt um fiktive Schadenersatzansprüche der AKW-Betreiber ging es jetzt um reale Gesundheitsschäden in Fernost.

Das Thema ist wieder in der Gesellschaft angekommen. Bei Infoständen in Fußgehzonen erleben Anti-Atom-AktivistInnen plötzlich wieder reges Interesse. Veranstaltungen haben Zulauf. In manchen Städten gründen sich gar neue Initiativen.

All diese Kräfte - von den traditionellen Standort-BIs und Aktionsgruppen aus den Städten über die Umweltverbände bis hin zur frustrierten rot-grünen Basis, neu erwachte und wiedererwachte Aktive, GewerkschafterInnen und Fundamentaloppositionelle, SolarlobbyistInnen und WindstromerInnen - alle werden zur Herbstkonferenz in Dannenberg erwartet. Auf daß die nominelle Anti-AKW-Bewegung wieder zu einer aktiven Anti-AKW-Bewegung werde.

Das Ziel ist klar: In den nächsten Monaten soll sowohl der Regierung als auch den Stromkonzernen mächtig Dampf unterm Hintern gemacht werden, auf daß die bisher in Erwägung gezogenen Konzepte zum Weiterbetrieb der Reaktoren (sie nennen das "Ausstieg") ganz schnell in der Altpapiersammlung landen.

Die Konferenz kann dazu so etwas wie eine Initialzündung sein. Wenn sich gewisse Stimmungen und Einschätzungen an einem Ort bündeln, wenn genügend Menschen mit ähnlichen Zielen und großer Motivation zusammenkommen, dann entsteht manchmal mehr als nur die Schnittmenge oder Summe aller Einzelnen. Dann kommt es zu einer Art chemischen Reaktion, die viel Energie freisetzt und etwas völlig neues entstehen läßt. So gesehen werden die Tage von Dannenberg spannende Tage.

Stunkparade in Berlin

Das schöne daran: Erste konkrete Handlungsschritte sind längst vorbereitet. Am wichtigsten ist da sicher die "Stunkparade" in Berlin. Am 13. November findet sie jetzt doch noch statt, die bundesweite Anti-Atom-Großdemo. Nachdem das Jahr über der Mut und die Leidenschaft fehlte, die Idee umzusetzen, ist nun die "Bäuerliche Notgemeinschaft" aus dem Wendland in die Bresche gesprungen.

Vor genau 20 Jahren gab es den legendären "Gorleben-Treck" nach Hannover unter dem Motto "Albrecht, wir kommen". Als die Bäuerinnen und Bauern in der niedersächsischen Landeshauptstadt eintrafen, haben dort 100.000 Menschen mit ihnen gemeinsam demonstriert. Und kurz darauf sprach der damalige CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht die historischen Worte: "Die WAA ist in Gorleben politisch nicht durchsetzbar."

Jetzt heißt es "Gerhard, wir kommen" und es ist ein kluger Schachzug der Notgemeinschaft, vor allem den Kanzler in den Mittelpunkt ihres Protestes zu rücken, denn das erste Jahr Rot-Grün hat gezeigt, daß vieles in der Atompolitik an Gerhard Schröder hängt. Damit öffnet sich die Demonstration gleichzeitig für all diejenigen, die in Jürgen Trittin noch immer den einsamen Kämpfer gegen die Atomkonzerne sehen wollen.

Es soll eben eine große gemeinsame Demo werden, für alle, denen, tja, beinahe hätte ich geschrieben, denen der Ausstieg zu langsam geht, aber leider gibt es ja von Regierungsseite nicht mal einen langsamen Ausstieg zu vermelden. Also eine Demo für alle, die was gegen den Weiterbetrieb der AKWs haben. Wie sangen doch die "Bots" Anfang der 80er Jahre: "Alle die gegen Atomkraftwerke sind, sollen aufstehn!"

Unter Umständen geht es in Berlin sogar um mehr als nur um AKWs. Ein Jahr nach der Regierungsübernahme durch Schröder, Fischer & Co. liegt ja weitaus mehr im Argen als nur die Atompolitik. Vielleicht ist der Streit um den Ausstieg nicht nur der "Knackpunkt" für grüne Regierungsbeteiligung, sondern auch eine Möglichkeit, machtvolle Opposition gegen die herrschende Politik im Allgemeinen zu demonstrieren. Möglicherweise wird aus der "Atompolitischen Opposition", abgekürzt ApO auch wieder eine "Außerparlamentarische Opposition" (APO). Unzufriedenheit dürfte genug vorhanden sein. Bisher gab es kaum Möglichkeiten, diese öffentlich zu manifestieren. Am 13.11. ändert sich das.

Ein Manko hat die "Stunkparade": Die "Bäuerliche Notgemeinschaft" hat sich sehr kurzfristig zum Treck in die Hauptstadt entschieden. Es bleibt kaum Zeit zur Vorbereitung. Deshalb wird in der Kürze weniges zentral organisiert. Wildwuchs ist gefragt. Die "Stunkparade" kann nur gelingen, wenn sich alle verantwortlich fühlen. In den noch verbleibenden Wochen gilt es, jeden Tag zu nutzen. Hauptaufgabe wird es sein, in den einzelnen Städten und Regionen möglichst optimal für die Demonstration in Berlin zu mobilisieren.

Was tun? Eigene Flugblätter und Plakate herstellen, dafür sorgen, daß ein möglichst breites Spektrum an Gruppen und Personen davon erfährt. Und vor allem: raus aus den üblichen Kreisen: Ökoszene und Studis, Punks und Jusos, SolaraktivistInnen und Autonome, GewerkschaftlerInnen und grüne Basis, Kirchen und Naturkostläden, Jugendgruppen und Szenekneipen, und alle alle, die "früher" mal was gemacht haben (und die noch genau wissen, wie das geht). Bringt es in Zeitungen und Rundbriefe. Macht Mobilisierungsveranstaltungen und -aktionen, bestellt Busse, oder tut Euch mit anderen Städten und Regionen zusammen und organisiert einen Sonderzug.

Laut der äußerst schiefen Statistik vom "Deutschem Atomforum" bezeichnen sich nur noch 11,8 Prozent der BundesbürgerInnen als "Atomkraftgegner" (in der gleichen Umfrage sind allerdings deutlich mehr für einen raschen Ausstieg, seltsam). Aber gut, nehmen wir mal die 11,8 Prozent. Das sind 9,5 Millionen BundesbürgerInnen. Wenn es in diesen Wochen gelingt, davon jede/n dreihundertste/n dafür zu gewinnen, mit nach Berlin zu kommen, dann sind wir dort etwa 30.000 Menschen. Wäre doch nicht schlecht.

Ich schätze mal, daß diesen Text im ak ca. 500 Menschen lesen werden. Wenn davon jede/r durchschnittlich neun andere für den 13.11. gewinnt, dann kann alleine die ak-LeserInnenschaft einen Block von 5.000 DemonstrantInnen in Berlin bilden. Ist doch eine nette Vorstellung, oder? Klar, neun andere zum Mitkommen überreden, das ist richtig viel. Aber es ist machbar.

Und wer möchte nicht dabei sein, wenn sich zum Ausgang des Jahrhunderts in Berlin die Demonstrationskultur der 70er und 80er Jahre mit der hauptstädtischen Straßenevent-Kultur der 90er zu einer hochbrisanten Masse verbindet? Keine "Latschdemo" und kein "Redenmarathon" einerseits, keine "Loveparade" oder "Skateparade" andererseits. Nein: "Stunkparade" ist angesagt.

Ich weiß, daß viele diesen Text lesen werden, die sehr genau wissen, wie mensch erfolgreich mobilisiert. Sie müssen sich jetzt nur noch dafür entscheiden, es auch zu tun. Manche lesen diesen Text auch, die sowas noch nie gemacht haben. Das sind meistens diejenigen, mit deutlich mehr Elan und Phantasie. Gute Voraussetzungen also. Es liegt in unseren Händen.

Und wenn der 13.11. gut läuft, dann wird er ein Auftakt sein, für eine neue Anti-AKW-Bewegung. Dann werden auf der Heimfahrt in den Bussen und Sonderzügen schon die Einladungen zum Treffen der neuen Anti-Atom-BIs in den Städten verteilt. Dann wird der Winter genutzt werden, um breit zu informieren und die Propaganda von Atomindustrie und Bundesregierung zu konterkarieren.

So bereitet die IPPNW bereits in Kooperation mit vielen anderen aus der Bewegung eine Zeitung mit riesiger Auflage vor, die an möglichst viele Haushalte in der Republik verteilt werden soll. Darin wird - um es mit den Worten der grünen EnergiepolitikerInnen zu sagen - der Ausstieg vom Konsens auf die Füße gestellt. Die durchaus vorhandenen Informationsdefizite in der Bevölkerung sollen mit dieser Zeitung ein Stück weit behoben werden. Und auch in diesem Blatt geht es am Schluß um Handlungsperspektiven.

Dann werden spätestens im Frühjahr die nächsten großen Aktionen folgen, diesmal vielleicht an den Standorten der Reaktoren. Und sollte irgendwann der Castor rollen, dann wird die neue Anti-Atom-Bewegung der alten Anti-Castor-Bewegung zu Hilfe eilen.

Auf der Herbstkonferenz der Anti-AKW-Bewegung vom 22. bis 24. Oktober in Dannenberg wird ein Experiment gestartet: Der Aufbau einer druckvollen Oppositionsbewegung in Zeiten von Rot-grün. Für alle, die sich noch zu jung fühlen, um schon zu resignieren. Macht mit!

Jochen Stay


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