akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 430 / 23.09.1999

Checkliste zum Atomausstieg

In Kürze dürfte das Verhandlungsergebnis der rot-grünen Bundesregierung mit der Atomwirtschaft über den Umgang mit den laufenden Atomkraftwerken in Deutschland vorliegen. Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW befürchtet, daß dann keine Zeit bleibt, um eine rationale Güterabwägung über die Vor- und Nachteile des vorgeschlagenen Deals mit der Atomwirtschaft vorzunehmen. Zudem dürften Spitzenpolitiker/innen von SPD und Grünen gemeinsam mit dem Großteil der Medien ausschließlich die Vorzüge einer Einigung mit der Atomwirtschaft hervorheben.

Dies nahm die IPPNW zum Anlaß, sich Mitte September mit einer "Checkliste zum Atomausstieg" an die grünen Kreis- und Landesverbände zu wenden. In einem Begleitschreiben beschrieb die atomkritische Ärzteorganisation ihre Motivation für die Aktion: "Parteiführung, Fraktion und Regierungsmitglieder agieren längst aus der Defensive, bereit nach jedem Strohhalm zu greifen, der der Öffentlichkeit (vor den nächsten Wahlen) als Atomausstieg verkauft werden kann ... Wir wenden uns daher an Euch/an Sie, in der Hoffnung, daß die grüne Basis einen kühlen Kopf bewahrt und eine rationale Entscheidung über die grüne Atompolitik trifft."

Brief an die Grünen

Ausgangspunkt der Checkliste ist die Frage "Was bedeutet Atomausstieg?". Wohl wissend, daß die grüne Basis durch Forderungen nach einem Sofortausstieg allzu schnell vom Weiterlesen des Papiers abgeschreckt werden würde, läßt die IPPNW den SPD-nahen Atomkritiker Klaus Traube sprechen. Dieser hält den Sofortausstieg sachlich unumwunden für gerechtfertigt. Als Mindestmaß für einen kompromißhaften Atomausstieg unter dem Druck der Konzerne definiert er die Abschaltung von einem Drittel der 19 laufenden Atomkraftwerksblöcke in dieser Legislaturperiode. Denn: Eine neue Bundesregierung könne in der nächsten Legislaturperiode jedes Ausstiegsgesetz und jeden Vertrag mit den Atomkraftwerksbetreibern wieder rückgängig machen. Und von einem Atomausstieg könne nur dann die Rede sein, wenn eine nennenswerte Anzahl von Atomkraftwerken in dieser Legislaturperiode abgeschaltet werden würde.

Viel wahrscheinlicher ist es allerdings, daß sich die rot-grüne Bundesregierung mit der Atomwirtschaft darauf einigt, maximal ein bis zwei Atomkraftwerke in dieser Legislaturperiode abzuschalten. Mit der diskutierten Abschaltung des Mini-Atomkraftwerks Obrigheim würde sich die nukleare Stromerzeugung in Deutschland allerdings nur um 1,7% verringern. Käme noch die Abschaltung des ebenfalls relativ kleinen Atomkraftwerks Stade hinzu, ginge die Atomstromproduktion lediglich um 4,8% zurück. Das zeigt: Mit dem absehbaren Verhandlungsergebnis kämen die Energieversorger den ausstiegswilligen Kräften in der Regierung überhaupt nicht entgegen!

Der vermeintliche Atomausstieg, hat seinen Preis. Erstens würden 17-18 Atomkraftwerke in Deutschland mit Einverständnis der rot-grünen Bundesregierung ungestört weiterbetrieben werden mit dem Risiko eines Super-GAU im dichtbesiedelten Deutschland. Die IPPNW verweist in ihrer "Checkliste" auf den Beinahe-GAU 1987 im Reaktorblock Biblis A, der über ein Jahr lang vertuscht worden war. Und mit der Liberalisierung der Energiemärkte werde jetzt aus Kostengründen schrittweise der Prüfaufwand in den deutschen, von Siemens errichteten Atomkraftwerken weiter reduziert, so daß gefährliche Risse mit noch geringerer Wahrscheinlichkeit rechtzeitig gefunden werden dürften. Fazit: "Allein ein Sofortausstieg aus der Atomenergie ist eine hinreichende Antwort auf dieses gewaltige Risiko."

Eine Vereinbarung mit der Atomwirtschaft hätte die Konsequenz, daß sich die rot-grüne Bundesregierung auf eine Friedenspflicht mit den Atomkraftwerksbetreibern einlassen müßte. Sie würde auf eine sicherheitsorientierte Atomaufsicht, auf eine Verschärfung von sicherheitstechnischen Auflagen und Grenzwerten, auf die Realisierung einer neuen Sicherheitsphilosophie, auf eine scharfe Überprüfung des Entsorgungsnachweises, auf eine adäquate Haftungsverpflichtung für den Betrieb der Atomkraftwerke etc. etc. verzichten müssen.

Friedenspflicht

Zweitens beinhaltet der vorgezeichnete Pakt mit der Atomwirtschaft den Bau von standortnahen Zwischenlagern. Mit dieser kurzfristigen "Lösung" des Atommüllproblems würde die rot-grüne Bundesregierung den Betreibern ihre Hauptsorge nehmen. Führende grüne Politiker/innen sollen die Atomwirtschaft bereits aufgefordert haben, doch jetzt schon die Genehmigung von Zwischenlagern zu beantragen. Die Anti-Atom-Bewegung hat derzeit wegen der vollen Lagerbecken in zahlreichen Atomkraftwerken gute Chancen, mit einer Verstopfungsstrategie den Weiterbetrieb zu unterbinden. Mit dem Bau standortnaher Zwischenlager wird der Castor-Widerstand zumindest deutlich erschwert. Denn: "Ziel ist, daß sich ... Transporte bestrahlter Kernbrennstoffe grundsätzlich erübrigen" (Wirtschaftsminister Müller & Atomkonzerne). Die IPPNW verweist darauf, daß das jetzt beantragte, standortnahe Zwischenlager am Atomkraftwerk Lingen für Brennelemente aus 50 Reaktorbetriebsjahren ausgelegt wird. Das zeigt, daß die Energieversorger mit dem Bau standortnaher Zwischenlager das Ziel eines langfristigen Auslaufens ihrer Anlagen verfolgen.

Anhand des Eckpunktepapiers von Bundeswirtschaftsminister Werner Müller (freigestellter VEBA-Manager) und den Atomkraftwerksbetreibern EnBW, RWE, VEBA und VIAG vom Juni 1999 dokumentiert die Checkliste, wie die Friedenspflicht im Einzelnen aussehen soll. So sollen die Sicherheitsüberprüfungen "gemäß dem bestehenden Regelwerk" vorgenommen werden. Eine weitere Klausel sieht vor, daß der Atomkraftwerksbetrieb nicht durch behördliche Interventionen gestört werden darf. Notwendige Prüfungen und Genehmigungen sollen mit der gebotenen Gründlichkeit, aber "ohne Zeitverzug" bearbeitet werden. Die Bundesregierung soll den Atomkraftwerksbetreibern zusichern, daß mit der Schaffung von standortnahen Zwischenlagern "die Entsorgungsnachweise der Eigentümer/Betreiber nicht in Gefahr kommen und nach der o.g. Übergangszeit die geordnete Zwischenlagerung als Entsorgungsnachweis genügt." Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Atomenergie sollen etwa durch eine Besteuerung nicht verschlechtert werden dürfen. Und überhaupt soll der gesamte "atomrechtliche Rahmen", insbesondere bezüglich der Sicherheitsanforderungen, nicht verändert werden.

Die IPPNW hält vor diesem Hintergrund den Preis für den vermeintlichen Ausstieg für viel zu hoch: "Jetzt ein solches Verhandlungsergebnis zu akzeptieren wäre deutlich schlechter als überhaupt nichts zu verändern!"

In der Checkliste werden zudem Zweifel an der Verläßlichkeit der Zusagen der Atomwirtschaft geäußert: "Es wäre naiv anzunehmen, daß die Zusagen der Atomwirtschaft für die nächsten 15 Jahre verläßlich wären ... Verläßlich ist nur, was schnell und nachprüfbar passiert. Sicherheit bringt nur ein schneller Atomausstieg."

Grüne erpreßbar

Die IPPNW warnt die grüne Basis vor möglichen Geheimabsprachen der Bundesregierung mit der Atomwirtschaft und stellt die Frage, ob die Grünen bei einem Pakt mit der Atomwirtschaft politisch erpreßbar werden. Denn: Wenn die Grünen die nächsten drei Jahre bangen müßten, ob die Betreiber nach Obrigheim auch das Atomkraftwerk Stade vereinbarungsgemäß stillegen und der Partei damit rechtzeitig zur nächsten Bundestagswahl ein Wahlgeschenk machen würden, wären sie möglicherweise in den kommenden Jahren in höchstem Maße politisch erpreßbar und müßten den Konzernen zahlreiche Zugeständnisse in anderen Politikfeldern machen.

Die Checkliste versäumt es nicht, den Blick über den Tellerrand der festgefahrenen Ausstiegsdebatte in Deutschland zu werfen und die Frage nach der eigentlichen Perspektive und Strategie der Atomwirtschaft zu erörtern: Die deutsche Energiewirtschaft hat sich "längst auf eine ,Europäisierung` der Energiewirtschaft und auf die europaweite Standortsuche für fossile und nukleare Großkraftwerke verständigt".

Der deutsche Kraftwerksbauer Siemens/ KWU, Hersteller aller 19 in Deutschland laufenden Atomkraftwerke, bemüht sich seit Jahren intensiv um die Nachrüstung, Fertigstellung und um den Neubau von Atomkraftwerken in Osteuropa. Mit finanzieller Unterstützung der Regierung Kohl erhielt Siemens zum Beispiel den Auftrag für den Bau (Fertigstellung) des Atomkraftwerks Mochovce in der Slowakei. Um die Baukredite zurückzahlen zu können, soll Atomstrom u.a. nach Deutschland importiert werden.

Hier nein? Dort ja?

Mit der absehbaren finanziellen Unterstützung der rot-grünen Bundesregierung dürfte Siemens auch bald einen Auftrag zum Bau (Fertigstellung) der ukrainischen Atomkraftwerke Khmelnitzki-2 und Rowno-4 bekommen! Auch in diesem Fall ist eine Refinanzierung der Kredite durch Atomstromimporte u.a. nach Deutschland wahrscheinlich. Siemens baut auch eine Stromtrasse vom litauischen Atomkraftwerk Ignalina (Tschernobyl-Typ!) nach Westen. Und am westrussischen Standort Smolensk plant Siemens den Bau eines Europäischen Druckwasser-Reaktors (EPR) und den Bau einer Stromtrasse von Smolensk (dort stehen bereits Reaktoren vom Tschernobyl-Typ) über Warschau nach Berlin und Kassel. Das vernichtende Urteil für die deutschen Ausstiegsbemühungen: "Die Abschaltung von ein, zwei oder auch drei deutschen Altreaktoren wird vor diesem Hintergrund ziemlich bedeutungslos!"

Das Papier ordnet die aktuelle Atompolitik jedoch nicht nur in eine europäische Perspektive ein, sondern thematisiert auch das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik. Es verweist auf das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI), mit dem die multinationalen Konzerne versuchen, ihre Rechtsansprüche weltweit zu verabsolutieren und die Handlungsmöglichkeiten der Regierungen einzuschränken. Nach Ansicht der IPPNW wird die aktuelle Auseinandersetzung um die Atomenergie in Deutschland von der Wirtschaft dazu genutzt, Politiker, Juristen, Journalisten und die breite Öffentlichkeit schrittweise an die Denkweise heranzuführen, "daß die wirtschaftliche Verwertung von getätigten Investitionen (Atomkraftwerke) in keiner Weise durch staatliches Handeln (z.B. nachträgliche Befristung der Genehmigungen, verschärfte Sicherheitsauflagen aufgrund neuer Erkenntnisse, Besteuerung etc.) geschmälert werden darf, ohne den Staat massiv zur Kasse zu bitten (Entschädigungsleistungen). Der Streit um die Atomenergie wird genutzt, um vor dem Hintergrund der Globalisierung und Liberalisierung die Machtfrage zwischen Großkonzernen und Staat, zwischen starken Einzelinteressen und demokratischen Mehrheitsentscheidungen sehr viel deutlicher als bisher zugunsten der ersteren zu entscheiden."

Mit seiner Forderung nach einem entschädigungsfreien Atomausstieg und die daraufhin seit Monaten andauernden juristischen Abwägungen in der Bundesregierung hat der Auto- und Atomkanzler Gerhard Schröder eventuell schon jetzt mehr zu dem von der Wirtschaft verlangten Paradigmenwechsel beigetragen als 16 Jahre Helmut Kohl, befürchtet die IPPNW.

Nach dieser Analyse entwickelt die IPPNW schrittweise eine Handlungsperspektive. Sie setzt zunächst an der Frage an, ob die Grünen vom Widerstand der SPD und der Atomwirtschaft überrascht wurden. Es wird erinnert an die Gründung der grünen Partei vor knapp 20 Jahren:

Diese Jahre waren gekennzeichnet "von der tiefen Erkenntnis, daß Reformprojekte wie der Atomausstieg den geballten Widerstand der (Atom)Wirtschaft und von Teilen des potentiellen Koalitionspartners (SPD) hervorrufen würde und nur mit Unterstützung eines starken außerparlamentarischen Drucks gegen diese durchgesetzt werden können". Wenn heute grüne Spitzenpolitiker/innen etwa in Schreiben an die IPPNW um Verständnis für die ,schwierige politische Situation im Umgang mit einer sehr mächtigen Industrie und als bedeutend kleinerer Partner in einer Koalition mit einer SPD` werben, dann dokumentiert das nur die völlig unzureichende Vorbereitung und die mangelhafte Durchsetzungskraft kurz: das vollständige Versagen des grünen Führungspersonals.

Denn es war immer klar, daß ein SPD-Kanzler dem kleinen Koalitionspartner jederzeit mit der Alternative einer großen Koalition drohen könnte. Weil sich die FDP immer der Rückendeckung vermögender und einflußreicher Kreise versichern konnte, die über eine entsprechende Medienmacht verfügen und für die notwendige "öffentliche Stimmung" sorgten, konnte sie auch als kleiner Koalitionspartner sehr vieles durchsetzen. Das grüne Führungspersonal versäumte es dagegen, sich die notwendige Rückendeckung aus der Gesellschaft professionell zu organisieren und sich gemeinsam etwa mit den Umweltverbänden und der Anti-Atom-Bewegung auf den Regierungswechsel strategisch zu rüsten. Selbst die eigene Parteibasis wurde nicht auf den Regierungswechsel vorbereitet und strategisch eingesetzt, um vom ersten Tag an im direkten Kontakt zur Bevölkerung vor Ort für die grüne Politik zu werben. Und in Bonn übertrafen sich die Politiker/innen gegenseitig darin, den eigenen Umweltminister zu torpedieren und jeweils individuelle Vorstellungen über immer längere Laufzeiten für die Atomkraftwerke in die Notizblöcke der Journalisten zu diktieren.

Grüne Notbremse

Die IPPNW legt der grünen Parteibasis nahe, die Notbremse zu ziehen. Das Verhandlungsergebnis der Bundesregierung mit der Atomwirtschaft sollte auf einem Sonderparteitag erörtert werden und nicht einfach nur vom sogenannten "Parteirat" entschieden werden, wie es die Parteispitze möchte. Der Rat: "Wenn im Herbst nicht absehbar ist, daß ein Großteil der Atomanlagen in dieser Legislaturperiode abgeschaltet werden und die Finanzierung neuer Atomkraftwerke in Osteuropa nicht eindeutig ausgeschlossen wird, dann sollte das Verhandlungsergebnis unbedingt abgelehnt werden." Die Ermunterung: "Ein solches Verhalten würde die Öffentlichkeit inzwischen vermutlich stärker honorieren, als viele Parteistrategen vermuten."

Das Papier mündet schlußendlich in dem Vorschlag, den Atomausstieg im Dissens mit der Atomwirtschaft und gemeinsam mit Umweltverbänden und Anti-Atom-Bewegung gesellschaftlich durchzusetzen. "Es gibt genügend realistische Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Politik der Nadelstiche, mit der ein Ausstieg aus der Atomenergie zügig herbeigeführt werden könnte. Allein die fehlenden Entsorgungsnachweise wären Grund genug für eine Abschaltung der laufenden Atomkraftwerke." Schließlich der Verweis auf Schweden, wo die Grünen eine Atomstrombesteuerung in der Regierung durchsetzten, indem sie ihre Zustimmung zum Staatshaushalt davon abhängig machten.

"Eine solche Politik müßte gegenüber der SPD durchgesetzt werden! Das kann nur durch eine ganz massive Öffentlichkeitskampagne unter Beteiligung aller aktivierbaren Kräfte gelingen. Über die grüne Basis und die verschiedensten Verbände müßte eine direkte Kommunikation mit der Bevölkerung aufgebaut werden. Eine ,Zeitung zum Atomausstieg` (oder Faltblätter) und Unterschriftenlisten, die millionenfach (!) in die Bevölkerung getragen werden, könnten die zentrale Basis für den notwendigen Druck auf Bundeskanzler Schröder sein."

"Ein Hilferuf einer Regierungspartei an die Gesellschaft wäre einmalig" und könnte ganz neue Energien freisetzen und zu einer massiven Mobilisierung führen, die immer neue Verbände in die Kampagne integriert und neue Ressourcen erschließt. Fazit: "Das Projekt Atomausstieg ist eine gesellschaftliche Veranstaltung oder gar keine."

Henrik Paulitz

IPPNW-Kampagne Atomausstieg


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