akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 430 / 23.09.1999

Warten auf Konsens

Rätseln über die rot-grüne Atompolitik

Spätestens am 12. September war für die Anti-AKW-Bewegung die Sommerpause vorbei. Sprichwörtlicher Auftakt eines aktionsreichen Herbstes war die Konzertblockade der "Lebenslaute" in Biblis, intoniert wurde die "Abschiedssinfonie" von Haydn.

Ob es mit dem Abschied von der Atomenergie etwas wird, das wird sich vielleicht auch schon in diesem Herbst herausstellen. Daß dabei von der rot-grünen Bundesregierung nichts zu erwarten ist, hat sich inzwischen herumgesprochen. Das Kapitel zur Atompolitik im Koalitionsvertrag ist mittlerweile fast abgearbeitet, und zwar insofern, als alle vor einem Jahr beschlossenen Maßnahmen nach und nach auf dem Müllhaufen der unerfüllten Versprechen gelandet sind.

Atomgesetzänderung innerhalb von 100 Tagen? Pustekuchen! Schneller Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung? Da sei Schröder vor! Nur ein Endlagerprojekt? Trittin mag nicht von Konrad lassen! Konsensverhandlungen auf ein Jahr befristet? Lieber nicht! Festlegung von einheitlichen Restlaufzeiten durch die Regierung? War da was? Den Ausstieg umfassend und unumkehrbar regeln? Äh...

Inzwischen wären die Grünen schon glücklich, wenn ein Altreaktor bis zu den nächsten Wahlen vom Netz geht. Dafür sind sie bereit, für den Großteil der AKWs weitreichende Bestandsgarantien abzugeben. Auf einer Diskussionsveranstaltung des "Informationskreis Kernenergie" über die "Zukunft der deutschen Kernenergiepolitik" erklärte die energiepolitische Sprecherin der bündnisgrünen Bundestagsfraktion, Michaele Hustedt: "Die Grünen geben sehr viel, sie helfen bei der Entsorgungsfrage mit Blick auf die Zwischenlager und die Probleme bei den Transporten von radioaktivem Abfall. Wir wollen zur Beruhigung der Situation beitragen, zu mehr Sicherheit bei der Entsorgungsregelung und einem ruhigen Betrieb der Kernkraftwerke in den Restlaufzeiten. Dafür fordern die Grünen, daß der Ausstieg noch in dieser Legislaturperiode beginnen muß."

Ein Jahr nach ...

... dem rot-grünen Wahlsieg vom 27. September letzten Jahres rückt die Atompolitik wieder mehr in den Mittelpunkt. Denn vor der Sommerpause hatte die Regierungskoalition diese Frage auf den 30.9. vertagt. Bis dahin soll eine Arbeitsgruppe von Staatssekretären aus den Ressorts Umwelt, Inneres, Justiz und Wirtschaft unter der Leitung von Rainer Baake aus dem BMU eruieren, ob und wie eine entschädigungsfreie Begrenzung der AKW-Laufzeiten ohne eine Einigung mit den Betreibern möglich ist.

In einem ersten Papier aus dem Hause Trittin für diese Arbeitsgruppe, das Ende August öffentlich wurde, werden aber noch ganz andere Fässer aufgemacht: Der im Koalitionsvertrag schon abgeschriebene Schacht Konrad soll nun - so der Entwurf - doch als Endlager genehmigt werden, damit der Bund nicht die 1,4 Milliarden DM zurückzahlen muß, die bisher von Betreiberseite in das Projekt geflossen sind. Die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente im Ausland bliebe nach dem BMU-Papier teilweise möglich. Dies gilt 1. für bereits in La Hague und Sellafield antransportierte Abfälle, 2. für die nach den sogenannten Altverträgen noch durchzuführenden Transporte und 3. für die AKWs, die ohne WAA-Transporte abschalten müßten.

Schwerpunkt des Entwurfs ist allerdings ein Szenario, wie die Laufzeit der AKWs auf 25 Kalenderjahre begrenzt werden könnte. Der Idee von Wirtschaftsminister Müller, einen Atomkonsens mittels eines öffentlich-rechtlichen Vertrages abzusichern, wird dabei verworfen.

Die BeamtInnen aus dem Umweltministerium haben sich richtig Mühe gegeben und für die Arbeitsgruppe nochmals die wichtigsten Argumente gegen die Nutzung der Atomenergie zusammengetragen und belegt. Jetzt stehen sie allerdings juristisch gesehen vor einem Dilemma: Wenn die AKWs wirklich so gefährlich sind, wie es die Vorlage aus dem BMU versucht nachzuweisen, dann ist diese ungeeignet für den Zweck, die AKW-Laufzeiten auf 25 bis 35 Jahre zu begrenzen. Denn wenn die beschriebenen Risiken wirklich existieren, dann muß der Staat die Atommeiler sofort vom Netz nehmen, um Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. In der Sprache der JuristInnen heißt das "Schutzpflicht des Staates".

Da der Sofortausstieg zwar juristisch angemessen aber politisch weder von SPD noch Grünen gewollt ist, müssen die armen FachbeamtInnen ihr Papier jetzt wieder entschärfen, müssen herausfinden ob vielleicht einzelne Reaktorblöcke gefährlicher sind als andere und so das Abschalten einzelner Anlagen juristisch zu rechtfertigen ist.

Was endgültig am 30. September in der Vorlage der Staatssekretäre stehen wird, ist nicht absehbar. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels deutet sich sogar an, daß es bis Ende September zu keiner Einigung zwischen den Auffassungen des Umwelt- und Wirtschaftsministeriums kommen wird. Damit würde sich die Prophezeiung von Christian Schwägerl aus der Berliner Zeitung vom 30.8. erfüllen: "Es zeichnet sich ab, daß die Expertengruppe die Aufgabe erfüllt, die ihr der Kanzler eigentlich gestellt hat: den Ausstieg im Dissens mit den Konzernen, den manche Grüne für möglich halten, totzuprüfen."

Auch ist noch völlig offen, wie das Procedere nach dem vom Kabinett gesetzten Termin aussieht. Wird zuerst das Kabinett oder werden die Koalitionsparteien miteinander den weiteren Kurs abstimmen? Wird es eine neue offizielle Verhandlungsrunde mit den AKW-Betreibern geben, nachdem sich Mitte September ja bereits Joschka Fischer und Jürgen Trittin mit einigen Konzernchefs zum inoffiziellen Gespräch getroffen haben?

Bleibt nur Spekulation

Zum Beispiel darüber, daß es den Atomstromern sehr gelegen kommt, wenn sich der Konsens-Prozeß weiter in die Länge zieht. Denn dann läßt sich jedes halbwegs ernsthafte Bemühen der staatlichen Behörden um sicherheitsorientierten Gesetzesvollzug als "Politik der Nadelstiche" diffamieren und es kann die "Friedenspflicht" während der Konsensgespräche angemahnt werden. Und ganz nebenbei kommt die Hoffnung auf, daß es der Branche gelingt, die Regierungszeit der beiden selbsternannten "Ausstiegsparteien" zu "überwintern" ohne auch nur ein einziges AKW vom Netz nehmen zu müssen. Im Vorfeld des 30.9. beharren sie jedenfalls auf ihrer Position, die Reaktoren erst nach 35 Vollastjahren (macht bis zu 45 Kalenderjahre) abzuschalten.

Spekulation auch darüber, ob und wie sich die beiden Regierungsparteien einigen. Nachdem im Frühsommer die Regelung der AKW-Laufzeiten als Knackpunkt erschien ("unter 30 Jahre" forderten die Grünen, 35 Jahre Minister Müller), so entfernt sich die interne Diskussion inzwischen von dem Gedanken, daß alle Reaktoren gleiche Lebenszeiten bekommen sollen. Jetzt gibt es Modelle, die vorsehen, einzelne Kraftwerke aufgrund mangelnder Sicherheit oder Wirtschaftlichkeit relativ bald stillzulegen und dafür dem großen Rest langfristigen Bestandsschutz zu gewähren. Das würde die allerletzte grüne Forderung nach einem Bauernopfer der Konzerne noch vor den Wahlen erfüllen, brächte die Betreiber aber andererseits den 35 Vollastjahren pro Meiler näher. Würden z.B. - was die Grünen sicherlich schon als Erfolg verkaufen würden - die beiden alten und relativ kleinen AKWs Obrigheim und Stade bis 2002 stillgelegt, so blieben noch 95,2% der deutschen Atomstromkapazitäten langfristig am Netz.

Spekulation schließlich darüber, wie sich die grüne Partei verhält, wenn auch ihre letzte Forderung nicht erfüllt wird. Denn die einzige Frage, bei der die Grünen überhaupt noch Spielraum haben, ist diejenige nach dem Gewicht, dem sie der Atomfrage einräumen. Wird es einen Sonderparteitag geben? Wird die Atomfrage zur Koalitionsfrage erhoben? Dies alles bleibt im Augenblick noch unbeantwortet.

Jochen Stay


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