akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 429 / 26.08.1999

"Heidelberg boykottiert Siemens"

Mit Städtekampagnen gegen den Atomkonzern

Mit einer "Prototyp-Kampagne" in Heidelberg entwickelte die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW gemeinsam mit örtlichen Gruppen ein Konzept, um dem Atomkonzern Siemens den Atomkraftwerksbau madig zu machen. Das Konzept stadtbezogener Siemens-Boykott-Kampagnen möchte die Organisation jetzt schrittweise in andere Städte "exportieren". Mit Castor-Blockaden die laufenden deutschen Atomanlagen verstopfen, mit dem Siemens-Boykott den Atomkraftwerksneubau in Osteuropa verhindern, ist die Strategie der IPPNW.

Die "zermürbenden Auseinandersetzungen" um die Atomenergie in Deutschland, so ein führender Manager der Deutschen Bank, veranlaßte die eng mit Siemens kooperierende Großbank spätestens 1989, die "Europäisierung" und Liberalisierung der Energiepolitik voranzutreiben. Die strategische Überlegung: Wenn wir Atomkraftwerke und fossile Großkraftwerke in Deutschland gegen den Widerstand aus der Bevölkerung nicht mehr durchsetzen können, dann bauen wir die Großkraftwerke im benachbarten Ausland an Standorten, wo die "politische Akzeptanz" größer ist, und importieren den (Atom-)Strom nach Deutschland (vgl. Paulitz 1994: Manager der Klimakatastrophe - Die Deutsche Bank und ihre Energie- und Verkehrspolitik).

Heute können wir hautnah z.B. in der Radiowerbung die schrittweise Realisierung des Stromwettbewerbs miterleben, die die Regierung Kohl noch auf den Weg gebracht hat und die die Regierung Schröder auch nicht behindern wird. Bündnis 90/Die Grünen haben sich selbst in Oppositionszeiten nicht grundsätzlich gegen diese Liberalisierung der Energiemärkte gewandt, die den (relativ teuren) regenerativen Energieträgern und der kommunalen Kraft-Wärme-Kopplung in den kommenden Jahren das Genick brechen könnte. Auf europäischer Ebene werden die großen Energiekonzerne die kleinen Versorger aufkaufen, miteinander fusionieren und Strom europaweit austauschen.

In diesem - hier nur kurz angedeuteten - Kontext sindst die Fertigstellung des slowakischen Atomkraftwerks Mochovce und die jetzt geplante Fertigstellung der ukrainischen Atomanlagen Khmelnitzki-2 und Rowno-4 und viele weitere geplante Projekte zu sehen. Siemens baut Atomkraftwerke in Osteuropa und die Energieversorger importieren künftig den Atomstrom u.a. nach Deutschland.

Das Problem der Anti-AKW-Bewegung in Deutschland: Mit dem Castor-Widerstand kann sie zwar sehr wirksam den Betrieb der von Siemens errichteten Atomkraftwerke in Deutschland "verstopfen", nicht jedoch den Export von Atomkraftwerken nach Osteuropa verhindern, obwohl wir künftig von dort mit Atomstrom überschwemmt werden. In den kommenden Monaten und Jahren stehen unzählige Entscheidungen über neue Atomprojekte an, die es zu verhindern gilt.

Wir haben praktisch keine Möglichkeit, uns Siemens beim Marsch Richtung Osteuropa physisch in den Weg zu stellen. "Wir stellen uns quer" funktioniert hier nur im übertragenen Sinne: Mit dem Siemens-Boykott können wir Siemens derart schwere Image-Schäden zufügen, daß es sich der Elektrokonzern nicht mehr leisten kann, Atomkraftwerke zu bauen. Großunternehmen sind heute extrem empfindlich gegenüber Image-Schäden, so daß Unternehmensberater empfehlen, gesellschaftlich umstrittene Produktionen im Zweifelsfall aufzugeben.

Heidelberg ...

Auf Initiative der IPPNW bildete sich in Heidelberg ein Aktionsbündnis bestehend aus IPPNW, Anti-AKW/Castor-Gruppe, Werkstatt für gewaltfreie Aktion, BUND Heidelberg, GAL/Bündnis 90/Die Grünen Heidelberg und der Fachschaftskonferenz der Uni Heidelberg mit dem Ziel, in der "kleinen Großstadt" Siemens in wenigen Wochen das Image "flächendeckend" zu beschädigen.

Kern der Aktivitäten bildete ein Faltblatt, von dem über 50.000 im gesamten Stadtgebiet in (fast) alle Haushalte verteilt wurden. Das informative Faltblatt wurde so gestaltet, daß bereits die Wahrnehmung der wenigen Sätze auf der ersten Seite und sogar die alleinige Wahrnehmung der Überschriften "Heidelberg boykottiert Siemens" und "Siemens baut Atomkraftwerke" ausreichten, um das Wesentliche zu vermitteln. Denn wenn die breite Bevölkerung erfährt, daß Siemens Atomkraftwerke baut und ein Boykott gegen das Unternehmen läuft, ist bereits die entscheidende Voraussetzung für den gewünschten Image-Schaden gegeben. Mit weiteren Texten und Grafiken auf den übrigen Seiten des Faltblatts wurde über die aktuellen Atomgeschäfte von Siemens informiert, auf die Energie-Alternativen verwiesen, die boykottierbaren Produkte gezeigt und die Funktionsweise des Siemens-Boykotts erläutert.

Den Auftakt der mehrwöchigen Kampagne bildete eine bunte Aktion am 13. Tschernobyl-Jahrestag (Motto: "Jetzt schlägts 13") auf dem zentralen Bismarckplatz. Mit Transparenten, einem Wegweiser zu den sieben Atomkraftwerksblöcken rund um Heidelberg, Redebeiträgen, Musik und Faltblättern führte sie zu einem überraschend guten Medienecho. Durchweg positive Berichte erschienen u.a. in der größten Tageszeitung, in einer an alle Haushalte verteilten lokalen Anzeigenzeitung und in dem bedeutendsten Radiosender der Region.

Mit einer intensiven Pressearbeit konnten wir Beiträge in seltener erscheinenden Publikationen arrangieren: so erschienen beispielsweise Artikel in der breit gelesenen regionalen Stadtillustrierten, in dem regionalen Umweltmagazin, in beiden Studierenden-Zeitungen und in der grünen Mitgliederzeitung. Die grüne Stadtratsfraktion stellte uns zudem im offiziellen Amtsblatt der Stadt Heidelberg ihre Spalte (Seite 2) zur Verfügung, mit der wir den Siemens-Boykott erneut in alle Haushalte transportieren konnten. Ein Aufruf lokaler "prominenter" Persönlichkeiten, darunter der Umweltbürgermeister als Privatperson, die Leiterin der Volkshochschule, diverse Künstler und Uni-Professoren, die zu einer "bewußten Kaufenthaltung" bei Siemens-Produkten aufforderten, veranlaßte schließlich auch die regionale Bild-Redaktion zu einem Bericht über den Heidelberger Siemens-Boykott.

Mit zwei Motiven warben wir in zwei Heidelberger Programm-Kinos einen Monat lang vor jeder Vorstellung für den Siemens-Boykott. Über 4.000 Boykott-Postkarten wurden in Kneipen ausgelegt und hinter Autoscheibenwischer geklemmt. Über 2.000 Postkarten verteilten wir vor unserem Infostand auf einem Straßenfest der Stadt Heidelberg am Autofreien Sonntag. Mit einem Stand auf einer lokalen Solarmesse erreichten wir an zwei Tagen ebenso zahlreiche interessierte Leute.

Mit einer Aktion auf dem Uniplatz protestierten wir mit dem "größten Atomkraftwerk Heidelbergs" und sammelten Unterschriften unter Protestfaxe an Bundeskanzler Schröder, die wir direkt ins Kanzleramt faxten. Zeitgleich mit den Verhandlungen des Kanzlers in der Ukraine protestierten wir mit einem Haufen Schrott, mit Boykott-Aufrufen per Megaphon und mit Unterschriften unter Faxe an den regionalen Betriebsratsvorsitzenden von Siemens gegen die geplante Fertigstellung von Atomkraftwerken in der Ukraine. Die in alle Heidelberger Haushalte verteilte Anzeigenzeitung berichtete ausführlich über die Aktion.

Mit dem Mix aus dem flächendeckend verteilten Faltblatt und der sehr guten Medienresonanz konnte in kurzer Zeit ein Großteil der Heidelberger Bevölkerung über die Atomgeschäfte von Siemens und über den Aufruf zum Siemens-Boykott informiert werden. Das tut dem Elektrokonzern, der derzeit mit Handys auf den Markt drängt, nicht gut.

Und weil die Kampagne in Heidelberg so viel Spaß gemacht hat, beschloß die Gruppe, auch weiterhin gemeinsam aktiv zu bleiben.

... und anderswo

Mit derartigen stadtbezogenen Boykott-Kampagnen haben wir den Schlüssel in der Hand, mit dem wir sukzessive einen ganz gewaltigen Druck gegenüber Siemens aufbauen können. Mit jeder weiteren Stadt, die wir mit einer derartigen Kampagne überziehen, muß sich die Siemens-Führung überlegen, ob ihr die damit verbundenen Image-Schäden noch tragbar erscheinen. Wie stark die Befürchtungen in der Siemens-Führung vor einer Ausweitung des Boykotts sind, zeigt sich allein daran, daß sich Konzernchef Heinrich von Pierer immer wieder gegenüber der IPPNW für eine Beendigung der Kampagne einsetzt.

Die Überlegungen für die Realisierung weiterer Städtekampagnen gehen dahin, den Umfang an Aktivitäten zu reduzieren. Denn entscheidend für den Erfolg sind praktisch drei Dinge: Erstens die Durchführung einer guten und sinnvoll plazierten Auftaktaktion, zweitens das Verteilen von Faltblättern in möglichst alle Haushalte und drittens eine gute Pressearbeit. Alles, was darüber hinausgeht, ist sehr nützlich, aber kein "Muß".

Was sind die Voraussetzungen für die Durchführung einer derartigen Kampagne? Basierend auf den Heidelberger Erfahrungen erscheint es wegen der Wirkung auf Presse und Bevölkerung sinnvoll, daß die Kampagne von einem relativ breiten Aktionsbündnis getragen wird. Entscheidend ist sicherlich auch, daß sich eine harmonierende und arbeitsfähige Kerngruppe herausbildet. Als günstig erweisen sich Mitstreiter, die in der politischen Szene der jeweiligen Stadt gut verankert sind und weitere Leute für Aktionen und für das Verteilen der Faltblätter mobilisieren können.

Um den künftigen Städtekampagnen den nötigen Drive zu geben und zu einer schlagkräftigen und druckvollen bundesweiten Kampagne "hochzufahren", ist geplant, nochmals in wenigen Städten die Vorfinanzierung der Aktivitäten (Druck der Faltblätter etc.) wie in Heidelberg vorzunehmen. Das Spendenaufkommen in Heidelberg, das aus einer sehr zurückhaltenden Spendenaufforderung auf den Faltblättern resultierte, läßt allerdings erwarten, daß bei einem offensiveren Spendenaufruf für eine bundesweite Kampagne eine Stadt die jeweils nächste Kampagne in einer anderen Stadt finanzieren kann. Wenn jeweils mehrere Städtekampagnen die nächsten Städtekampagnen ermöglichen, dann wäre der Siemens-Boykott nicht mehr aufzuhalten. Siemens stünde dann massiv unter Druck.

Henrik Paulitz

Der Autor organisiert für die IPPNW die Siemens-Boykott-Kampagne. Weitere Informationen im Internet unter: www.siemens-boykott.de. Erwägt Ihr, in Eurer Stadt eine Siemens-Boykott-Kampagne durchzuführen? Dann meldet Euch doch einfach mal bei Henrik Paulitz, Tel./Fax 06221-75 88 77. Oder bestellt unseren kostenlosen Leitfaden für stadtbezogene Siemens-Boykott-Kampagnen mit vielen weiteren Tips bei der IPPNW, Tel. 030-693 02 44, Fax 030-693 81 66.


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