akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 428 / 08.07.1999

Verstopfungsstrategie

Interview mit Gesine Fischer und Wiebke Herding von "Xtausend mal quer"

Nach nunmehr über einem Jahr Atomtransporte-Stop wird es in den internen Lagerbecken der AKWs langsam eng. Bis Ende des Jahres müssen die Transporte wieder aufgenommen werden, wenn die AKWs nicht wegen fehlender Entsorgung abgeschaltet werden sollen. Genau darin sehen viele Anti-AKW-Gruppen eine Chance. Sie wollen mit Aktionen die Entsorgungswege verstopfen. Bundesweit aktiv ist das gewaltfreie Spektrum mit der Kampagne "X-1000 mal quer". ak sprach mit den zwei Aktivistinnen Gesine Fischer (Wendland) und Wiebke Herding.

ak: Wenn in den Medien in den letzten Monaten über AtomkraftgegnerInnen berichtet wurde, dann war auch oft von "X- tausendmal quer" die Rede. Beschreibt doch mal kurz, was es mit dieser Kampagne auf sich hat.

Gesine: "X-tausendmal quer", das war die große gewaltfreie Sitzblockade am Verladekran in Dannenberg beim letzten Castor-Transport nach Gorleben 1997. Danach gab es in der Bewegung einigen Streit um diese Aktion, aber letztendlich überwogen die positiven Rückmeldungen. Schließlich hat diese Großblockade zusammen mit den anderen Formen des Widerstandes dazu beigetragen, daß seither kein Castor mehr ins Wendland gerollt ist. In Lüchow-Dannenberg hat sich bald nach diesem letzten Tag X eine neue Gruppe zusammengefunden. Wir wollten das Konzept von "X-tausendmal quer" weiterentwickeln und haben für einen neuen Gorleben-Transport konkrete Pläne gemacht. Die Idee ist: Das nächste Mal gehen wir auf die Schiene und blockieren den Atommüll-Zug schon vor seiner Ankunft am Verladekran. Dann bleibt durch den Umladevorgang noch genug Zeit für eine zweite Blockade auf der Straße zwischen Dannenberg und Gorleben.

Wiebke: Die 1997er Aktion war ja nicht nur von wendländischen Leuten vorbereitet worden. Viele AktivistInnen aus der bundesweiten Szene gewaltfreier Aktionsgruppen und aus der Jugendumweltbewegung waren mit dabei. In diesen Gruppen haben wir nach dem Transportestop durch Ministerin Merkel im Frühjahr 1998 wieder verstärkt über Aktionsperspektiven nachgedacht. Herausgekommen ist dabei die Kampagne "X-tausendmal quer - überall".

Wir wollen den ersten Castor nach Aufhebung des Transportestops blockieren, egal von wo nach wo er fährt. Das heißt, wir haben es diesmal nicht nur mit einem Tag X sondern auch mit einem Ort X zu tun. Rollt der erste ins Wendland, dann greift das Schienenkonzept der wendländischen "X-tausendmal quer"-Gruppe; rollt er von einem AKW zur Wiederaufarbeitung ins Ausland, dann blockieren wir das Kraftwerk und vielleicht auch an der Grenze; rollt er von Neckarwestheim zum Zwischenlager Ahaus, versuchen wir auch, beide Orte abzudecken. Wichtig ist dabei, daß wir uns möglichst gut mit den anderen an den jeweiligen Standorten aktiven Gruppen absprechen und zu gemeinsamen Konzepten kommen.

Gesine: Unsere Grundaktion bleibt die gewaltfreie Sitzblockade. In einer Übereinkunft ist genau aufgeschrieben, wie wir uns bei der Aktion verhalten wollen. So weiß jede und jeder vorher, worauf er oder sie sich einläßt. Mit der Unterschrift unter eine Absichtserklärung machen die potentiellen BlockiererInnen öffentlich, daß mit ihnen beim nächsten Transport zu rechnen ist. Durch diese Rückmeldungen haben wir - anders als bei einem unpersönlichen Demo- oder Aktionsaufruf - schon weit vor der eigentlichen Aktion die Möglichkeit, intensiven Kontakt untereinander aufzubauen. Wir informieren regelmäßig in Rundbriefen über die atompolitische Situation und über den Stand der Vorbereitung der Blockade. Wir bieten Trainings in gewaltfreier Aktion an. Und wir können viele Menschen schon in die organisatorischen Arbeiten und die Entscheidungsstrukturen der Kampagne miteinbeziehen.

Wiebke: Innerhalb der Sitzblockade werden diesmal auch verschiedene gut vorbereitete Gruppen versuchen, durch Anketten oder ähnliche technische Aktionen die polizeiliche Räumung zu erschweren. Allerdings wollen wir darauf achten, daß dies nur an Streckenabschnitten stattfindet, wo alle BlockiererInnen mit solchen Aktionen klarkommen. Es wird also auch Abschnitte geben, in denen "nur" sitzen stattfindet.

Wie ist die Resonanz auf eure Kampagne? Immerhin scheint die Anti-Atom-Bewegung zur Zeit wenig mobilisierungsfähig.

Gesine: Ich bin positiv überrascht. Rechnen wir die Rückmeldungen auf den Wendland-Aufruf und auf "X-tausendmal quer - überall" zusammen, dann gibt es bereits 2.400 Menschen, die sich auf die Blockade vorbereiten. Das ist eine Zahl, wie wir sie 1997 erst in der heißen Phase, drei Wochen vor dem Tag X, erreicht haben. Am Ende waren wir damals 9.000.

Inzwischen gibt es bundesweit etwa 45 Regionalkontakte der Kampagne. Das sind zum Teil Einzelpersonen und zum Teil Gruppen, die sich in ihrer Region um die Mobilisierung und die konkrete Aktionsvorbereitung kümmern. Unsere Organisationsstruktur ist sehr dezentral angelegt. Verschiedene Arbeitsbereiche sind über die ganze Bundesrepublik verteilt, das geht von Kiel bis Augsburg und von Leipzig bis Aachen. Insgesamt arbeiten zur Zeit ungefähr 80 Leute in der überregionalen Kampagnenstruktur mit.

Besonderen Wert legen wir auf die gründliche Vorbereitung der Infrastruktur. Die Erfahrung der Vergangenheit zeigt uns, daß die Leute viel mehr Kraft und Mut bei der Aktion aufbringen, wenn die äußeren Rahmenbedingungen stimmen, wenn es genügend Unterstützung bei der Blockade gibt. Das reicht vom Essen bis zum Fahrdienst, von einer guten Infoversorgung bis zu Wechselklamotten und von SanitäterInnen bis zu basisdemokratisch organisierten Entscheidungsstrukturen vor und während der Aktion.

Einige Leute aus der Kampagne bereisen alle möglichen Aktionsorte, nehmen Kontakt mit örtlichen Gruppen auf und machen erstmal eine Bestandsaufnahme der Gegebenheiten vor Ort. So können wir für die verschiedenen Standorte spezielle Aktionsplanung betreiben.

Wiebke: Daß wir schon relativ weit in unseren Vorbereitungen sind und auf Resonanz sowohl unter den Aktiven als auch in den Medien stoßen, das bringt auch Probleme mit sich. Denn - von einigen Ausnahmen abgesehen - sind andere Spektren der Bewegung noch nicht so gut organisiert. Viele Kräfte wurden durch den Widerstand gegen den Krieg in Jugoslawien gebunden, auch durch die Aktionen in Köln, und manche sind sicher auch ganz froh, wenn es mal eine längere Castor-Pause gibt.

So entsteht aber der Eindruck, als ob "X-tausendmal quer" alles dominiere. In der öffentlichen Wahrnehmung ist das ja teilweise auch der Fall. Doch ich halte diese Entwicklung für gefährlich. Die Bewegung war immer dann am stärksten, wenn sie vielfältig war. Diese Vielfalt ist im Augenblick noch nicht ausgeprägt genug. Wir können da nur hoffen, daß sich auch die anderen Gruppen wieder mehr beteiligen.

Gesine: Es wäre ja völlig unsinnig, wenn wir erstmal Pause machen, bis die anderen so weit sind, oder?

Wann ist nach euren Informationen mit dem nächsten Castor-Transport zu rechnen, und wo wird er rollen?

Gesine: Es ist weiterhin alles offen. Aus La Hague nach Gorleben ist ja schon lange ein Transport geplant. Aber ob der nun schon im Herbst kommt oder im Frühjahr 2000 oder - wie es die niedersächsische Landesregierung will - erst nach der Expo, das ist noch nicht entschieden. Da laufen hinter den Kulissen Machtkämpfe ab, und der zu erwartende Widerstand ist ein gewichtiger Faktor dabei.

Wiebke: Auch bei den Transporten zur WAA ist noch nichts festgeklopft. Noch dauert der Transportestop an. Den größten Druck machen zur Zeit die Betreiber der AKWs in Neckarwestheim, Biblis, Stade und Philippsburg. Deren Abklingbecken sind so voll, die müssen noch in diesem Jahr mit Transporten anfangen, sonst ist in der ersten Hälfte des nächsten Jahres Schluß. Die haben da echt ein Problem, und das ergibt für uns eine schöne Perspektive...

Diese "Verstopfungsstrategie", die ihr da propagiert, die Reaktoren sozusagen vom Netz zu blockieren, macht ihr es euch da nicht zu einfach? Wie wollt ihr "überall" gleichzeitig präsent sein? Da ist es doch für die Polizei ein leichtes, euch auszutricksen. Und schließlich würde es die Kräfte der Bewegung doch auch völlig überfordern, wenn - wie geplant - alle paar Wochen Castor-Züge Richtung Frankreich rollen.

Wiebke: Da liegt ein Mißverständnis vor. Wir wollen und wir brauchen ja gar nicht überall und auch nicht ständig zu blockieren, sondern nur dann, wenn der erste Transport rollen soll. Zu erfahren, wo dieser Castor abfährt, das wird für die Bewegung ein Leichtes sein. Aber entscheidend ist: Gelingt es, zu diesem Tag X genügend Menschen zum Querstellen zu mobilisieren, dann braucht es da so viel Polizei, daß weitere Großeinsätze lange nicht möglich sein werden, und damit fallen weitere Transporte flach. Das haben verschiedene Innenminister in den letzten Monaten mehrmals bestätigt: Mehr als allerhöchstens zwei solche Rekordeinsätze sind pro Jahr nicht machbar.

Ich finde das irre. Zum ersten Mal kann eine Protestbewegung in diesem Land umstrittene Projekte allein dadurch zu Fall bringen, daß genügend Menschen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sind. Das ist ja das Geniale an dieser Verstopfungsstrategie: Es kommt gar nicht darauf an, ob wir den ersten Castor tatsächlich aufhalten oder nicht. Wichtig ist nur, daß wir die anti-atomare Kettenreaktion auslösen: Viele BlockiererInnen erfordern viel Polizei. Viel Polizei bedeutet viele Überstunden. Viele Überstunden bedeuten langes Warten auf den nächsten Transport. Seltene Transporte bedeuten Entsorgungs-Notstand in den AKWs. Und der Entsorgungs-Notstand führt schließlich zum Abschalten.

Gesine: Der Spiegel hat über "X-tausendmal quer" geschrieben: "Der Plan ist simpel, die Folgen für die Nuklearbranche sind womöglich gravierend." Die Verstopfungsstrategie ist ein weitaus effektiveres und schnelleres Ausstiegskonzept als alles, was in Bonn bei den Konsensgesprächen diskutiert wird. Verhindern wir die Transporte, dann sind bis zum Ende der Legislaturperiode schon elf Reaktoren vom Netz - und zwar entschädigungsfrei.

Als RWE-Chef Kuhnt in einem Interview Regreßforderungen an die Bundesregierung ankündigte, falls nicht bald wieder Transporte genehmigt würden, ist er gefragt worden, ob sowas nicht zum unternehmerischen Risiko gehört, schließlich könnte er doch auch keine Ansprüche stellen, wenn die Transporte "durch höhere Gewalt wie Demonstrationen" verhindert würden. Da hat er geantwortet: "Richtig, gegen höhere Gewalt kann man nichts machen." Na ja, und "X-tausendmal quer" ist sozusagen die höhere Gewaltfreiheit, und ich vermute, die in den Vorstandsetagen sind ziemlich ratlos, was sie machen sollen.

Das glaube ich nicht. Schließlich arbeiten die doch schon längst an ihren Hintertürchen. In Stade sollen z.B. zusätzliche Tragegestelle für Brennelemente eingesetzt werden. Woanders ist von Transportbereitstellungslagerung die Rede. Da sollen die gefüllten Castoren einfach auf dem Kraftwerksgelände abgestellt werden. Und außerdem sind doch an allen AKWs neue Zwischenlagerhallen geplant, die jegliche Transporte unnötig machen.

Wiebke: Das ist alles richtig. Aber das würde für die "Verstopfungsstrategie" nur dann zum Problem, wenn niemand etwas dagegen unternimmt. Denn all diese technischen Ausweichkonzepte müssen genehmigt werden. Und diese Genehmigungsverfahren bieten viele Möglichkeiten der Einflußnahme und Verzögerung. Doch selbst wenn zum Beispiel in Stade dieses Zusatzgestell eingesetzt würde, wäre das Ende nur um ein Jahr verzögert.

Für den Bau und die Genehmigung der dezentralen Zwischenlager an den AKW-Standorten rechnen die Betreiber selbst mit sechs Jahren. Die Beispiele Gorleben und Ahaus haben gezeigt, daß sowas noch viel länger dauern kann.

Aber es muß angegangen werden. Der wissenschaftliche, juristische, genehmigungstechnische und politische Sachverstand der Bewegung muß sich dieser Themen annehmen, muß mithelfen, die Verstopfungsstrategie abzusichern.

Gesine: Selbst wenn es so weit kommen sollte, daß ein wegen "Verstopfung" abgeschaltetes AKW wieder anlaufen soll, weil die Transportbereitstellungslagerung genehmigt wurde oder eine Castor-Halle ihren Betrieb aufnimmt, dann hört unsere Phantasie ja nicht auf. Auch für die Lagerung unter freiem Himmel oder im Zwischenlager braucht es Behälter. Und die müssen angeliefert werden ...

Bundesumweltminister Trittin geht davon aus, daß die Regelung der Entsorgung auf gesellschaftliche Akzeptanz trifft, wenn erstmal Ausstiegsfristen für die einzelnen Reaktoren festgelegt worden sind. Ist es nicht realistischerweise so, daß ihr ganz viel an Unterstützung verlieren werdet, spätestens wenn in Bonn der "Energiekonsens" verkündet wird?

Gesine: Realistisch ist das Gegenteil. So leicht sind die Leute nicht hinters Licht zu führen. Wenn Regierung und Konzerne den langfristigen Weiterbetrieb der AKWs beschließen, dann wird die Anti-Atom-Bewegung nochmal mächtig Zulauf bekommen. Alle, die sich von Rot-Grün deutliche Schritte in Richtung Ausstieg versprochen haben, werde enttäuscht sein. Und da bieten wir doch ganz ermutigende Perspektiven an. Die Grünen hatten im Wahlkampf den Slogan "Atomausstieg - nur mit uns". Das glaubt denen kein Mensch mehr. Unsere Antwort darauf ist "Atomausstieg - nur mit Euch". Je mehr Menschen sich querstellen, um so schneller gehen die Reaktoren vom Netz.

Wiebke: Der Streit um die Atomkraft und die konkrete Auseinandersetzung um die Castor-Transporte hat alle Chancen, zum exemplarischen Konflikt zwischen Rot-Grün und einer neu sich formierenden außerparlamentarischen Opposition zu werden. In allen anderen Politikfeldern ist es weitaus schwieriger, konkrete Ansatzpunkte zur Entwicklung von gesellschaftlichem Druck zu finden. Der Widerstand gegen den Krieg hat darunter gelitten, daß er kein wirklich zündendes Aktionskonzept hatte, das viele durch eigenes Handeln mit umsetzen konnten. Ähnliches gilt für die Aktionen rund um die Kölner Gipfel. Auch in der Flüchtlings- oder Sozialpolitik bleibt es schwierig, als linke Opposition handlungsfähig zu bleiben.

Ganz anders in der Atompolitik. Da werden sich die zwei Konzepte von Regierung und Bewegung direkt gegenüberstehen. Alle Menschen können sich entscheiden, welches sie für erfolgversprechender halten. Die Frage ist simpel: Wollt ihr weitere 20 Jahre Atomkraft-Risiken, genannt Ausstieg, oder wollt ihr aktiv dazu beitragen, daß endlich Schluß ist mit den AKWs. Ich glaube, daß auch und gerade die grüne Basis, die ja bestimmt nicht mit den Ergebnissen aus Bonn zufrieden ist, vor der Frage steht, ob sie das alles so akzeptiert oder - so war das ja früher mal - als zweites Standbein des eigenen politischen Handelns auch die außerparlamentarischen Aktivitäten wieder verstärkt.

Gesine: Ich finde das faszinierend. Wir haben es praktisch selbst in der Hand. Je mehr Leute mitmachen, um so größer sind die Erfolgsaussichten. Ich hoffe nur, daß sich diese einmalige Chance rechtzeitig weit genug herumspricht.

Wiebke: Und ich hoffe, daß viele verstehen, daß die Verstopfungsstrategie nicht nur aus "X-tausendmal quer" besteht, sondern daß möglichst vielfältiger Widerstand nötig ist, um gemeinsam ans Ziel zu kommen.

Die Fragen stellte DSe

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