akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 425 / 15.04.1999

Freiheit für das Elektron

Liberalisierter Strommarkt in Deutschland

Bis vor ca. einem Jahr fanden sich in den Zeitungen höchstens kleinformatige Anzeigen des Informationskreises Kernenergie, in denen die Überlegenheit deutscher Atomenergie demonstriert werden sollte. Nun ist in der deutschen Energiewirtschaft eine Veränderung eingetreten: Die Energieversorgungsunternehmen (EVU) werben mit bunten Bildern und flott formulierten Texten für ihre Leistungsfähigkeit. Was ist geschehen?

Am 29. April 1998 ist das neue deutsche Energierecht in Kraft getreten. Das bisherige Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) aus dem Jahre 1935 beinhaltete als wesentlichen Bestandteil die Gebietsmonopole; die EVU waren in ihrem Territorium alleine für die Stromversorgung zuständig; diese Monopole verhalfen ihnen - trotz staatlicher Preisaufsicht - zu immensen Gewinnen. Der Satz "Stromverkauf ist wie eine Lizenz zum Gelddrucken" umschreibt die Situation eindrücklich.

Obwohl es in Deutschland nahezu tausend Stromversorgungsunternehmen gab, hatten sich auf dem Stromsektor die acht (nach dem Fall der Mauer neun) großen Monopol-EVU herausgebildet, die gnadenlos den gesamten Strommarkt beherrschten und ihm - unterstützt von der Politik, mit der sie vielfach personell und kapitalmäßig verflochten waren sind - ihre Regeln aufzwangen.

Mit dem neuen Energierecht sind die Tage der Gebietsmonopole gezählt. Ab sofort kann (rein theoretisch) jeder Stromverbraucher den Versorger selbst wählen. Ziel des Gesetzes - das noch unter FDP-Wirtschaftsminister Rexrodt zustande kam - ist, die Strompreise insbesondere für die Wirtschaft zu senken und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Ob - wie behauptet - alle Kundengruppen langfristig von fallenden Strompreisen profitieren werden, ist noch unklar. Unklar ist auch, ob die ökologische Komponente bei diesem Preiswettbewerb eine tragende Rolle spielen wird.

Gebietsmonopole fallen

Täglich lassen sich im Wirtschaftsteil der Zeitungen Meldungen über Abschlüsse von Stromlieferungsverträgen zwischen großen Abnehmern und Stromlieferanten lesen. So hat z.B. die Energie Baden-Württemberg AG (EnBW) im März in Düsseldorf eine Niederlassung eröffnet. Erklärtes Ziel von EnBW ist es, nach RWE Energie die Nummer zwei in Nordrhein-Westfalen zu werden. Vorstandsvorsitzender Gerhard Goll sagte in diesem Zusammenhang, Nutznießer der Liberalisierung im Strommarkt solle auch der Mittelstand werden. Neben einer Preisanpassung auf breiter Front werde generell das Angebot von Service und Dienstleistung rund um das Kernprodukt Strom steigen. EnBW will auch das Abgeordnetenhaus in Berlin mit Strom versorgen und hat sich beim Kartellamt über die Weigerung des örtlichen Stromversorgers Bewag beklagt, die erforderliche Durchleitung zu gewähren. Der Energiekonzern gilt als einer der aggressivsten Wettbewerber auf dem liberalisierten deutschen Strommarkt. RWE kündigte bereits an, im Gegenzug auch Stromkunden in Baden-Württemberg zu akquirieren.

Die Weigerung der Bewag, die Stromdurchleitung - zu der sie gesetzlich verpflichtet ist - zu den Kunden der EnBW vorzunehmen, begründet diese mit fehlenden technischen Voraussetzungen, die aus der früheren Insellage von Berlin resultieren. Die Stromtrassen würden eine Durchleitung des Stroms derzeit nicht ermöglichen. Mittlerweile ist dieser Fall vor dem Kartellamt anhängig.

Der deutsche Strommarkt zählt zu den lukrativsten in Europa. Rund 350 Milliarden Mark Umsatz machten die Energieversorger allein 1998 mit dem Verkauf von Strom. Fast 30 Milliarden Mark pumpten die Stromkonzerne in den Standort Deutschland; sie verbesserten die Infrastruktur, bauten neue High-Tech-Stromfabriken. Die Masse der Kraftwerke ist längst abgeschrieben. Daher werden die Manager diese Stromfabriken nicht so schnell aufgeben. Vor allem wegen des zunehmenden Wettbewerbsdrucks rechnen sich diese Megawatt-Klötze, die Strom zu absolut günstigen Kosten von teilweise drei, vier Pfennig pro Kilowattstunde produzieren. Weil die Überkapazitäten in Deutschland inzwischen aber weit über 15.000 Megawatt (MW) betragen und der Stromabsatz nahezu stagniert, wird erst in zehn bis 15 Jahren Bedarf für neue Großkraftwerke bestehen. Die häufig gehörte Drohung, nicht mehr in Deutschland zu investieren, ist kaum mehr als heiße Luft.

Konkurrenz aus dem Ausland

Nach der Liberalisierung reißen sich immer mehr ausländische Anbieter vor allem um die stromschluckenden Industriekunden. So will das britische Unternehmen Powergen ausgerechnet im Braunkohlerevier der RWE Energie AG wildern und in der Nähe von Köln ein Gaskraftwerk mit einer Leistung von 1.000 MW errichten - Investitionsvolumen etwa eine Milliarde Mark. Zum Vergleich: Mit der Braunkohle aus Garzweiler II will die RWE AG die 2.100 MW Blöcke im Kraftwerk Frimmersdorf bei Neuss befeuern und billigen Strom erzeugen. Drei Milliarden Mark betragen allein die Aufschlußkosten für den 48 Quadratkilometer großen Tagebau, noch einmal fast vier Milliarden kostet die Modernisierung des RWE-Kraftwerksparks in Frimmersdorf. Die Konsequenz: der heftig umstrittene Braunkohletagebau Garzweiler II ist überflüssig.

Knapp 80 Kilometer nordwestlich, im münsterländischen Ahaus - bekannt als Standort eines Atommüllzwischenlagers - planen amerikanische Investoren zwei Gas-und Dampfturbinen-Kraftwerke (GuD) mit einer Kapazität von über 2.000 MW. Sie wollen dem Dortmunder Energieversorger VEW Kunden abnehmen. Aufgemischt wird auch der ostdeutsche Markt, bisher fest in Händen der Veag. Der deutsch-schwedische Energieversorger Vasa Energy will auf dem Gelände des stillgelegten Atomkraftwerks Greifswald-Lubmin bis zum Jahre 2002 ein modernes GuD-Projekt mit einer Kapazität von 1.200 MW bauen.

Deutsche EVU auf Einkaufstour

Die Chefs der deutschen Energiekonzerne haben erkannt, daß Akquisitionen und Investitionen im Ausland zwingend zur Überlebensstrategie auf dem Markt zählen. Die PreussenElektra AG geht im Norden und im Osten Europas auf Einkaufstour. Die Weichen hierfür hat sie schon im November 1998 gestellt, als Preag-Chef Hans-Dieter Harig den amerikanischen Strommarkt ins Visier genommen hat: Vier Milliarden Mark will PreussenElektra in eine Beteiligung an dem US-Konzern Southern Energy stecken.

AKWs spielen in den zukünftigen Planungen der Strommanager derzeit nur eine untergeordnete Rolle. Vor 2010 sei kein Neubau eines Reaktors notwendig, heißt es in den Vorstandsetagen. Auch für den neuen Europäischen Druckwasserreaktors (EPR) geben die Konzerne nur widerwillig Geld aus, denn aufgrund der riesigen Kapitalkosten rechnen sich Investitionen in neue AKWs gegenüber den GuD-Anlagen zur Zeit überhaupt nicht. Einzig die Bayernwerke AG will auf Geheiß des bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber und zur Unterstützung des in München ansässigen Siemens-Konzerns einen Standort für den EPR ausschreiben.

Gleichzeitig aber haben die Bayernwerke AG und die österreichische Verbund dieser Tage mit dem größten russischen Stromversorger Rossii unter Einschluß der Ukraine ein Joint-Venture angekündigt. Aus Rußland sollen Stromlieferungen von 1.200 MW erfolgen, und zwar jeweils 600 MW für Bayernwerk und Verbund. Die Größenordnung des jährlichen Lieferpakets entspricht der Kapazität eines AKW. Der Erlös für Rossii wird auf 100 bis 200 Mio. DM pro Jahr veranschlagt; bezogen auf die Kilowattstunde (kWh) könnte das Entgelt 1,5 Pf für Rossii ausmachen. Die Bayernwerk AG kann wie Österreichs Verbund die Elektrizität für deutlich unter fünf Pfennig pro Kilowattstunde frei Grenze beziehen. Mit Strombezugspreisen im Bereich von drei Pfennig pro Kilowattstunde, die derzeit für die Elektrizitätsbeschaffung aus Mittel- und Osteuropa genannt werden, und der längerfristig vereinbarten Lieferung kann sich das Bayernwerk für den härter werdenden Wettbewerb vorzüglich positionieren. Und die Viag-Tochter hat in Richtung Bonn signalisiert, daß die Elektrizitätsimporte eine außerordentlich kostengünstige Option darstellen. Das gelte vor allem für den Fall, daß hierzulande für die Stromerzeugung die politischen Handikaps vergrößert werden sollten. Bayernwerk-Chef Majewski verhehlte nicht, daß angesichts der Überkapazitäten in Europa von 30.000 bis 35.000 MW das Angebot aus Rußland eine besonders wettbewerbsfähige Bezugsoption darstelle. Das Gesamtpaket ermögliche aber für Bayernwerk und Verbund immerhin den Verzicht auf ein eigenes Kraftwerk auf Atomenergiebasis; nicht zuletzt hierdurch verbessert sich auch die Verhandlungsposition bei den Energiekonsensgesprächen mit der Bundesregierung. Rußlands Energieanlagen könnten mit den Stromdevisen modernisiert werden. (vgl. auch ak 419, S.3)

Was von dieser Option tatsächlich zu halten ist, wird sich erst in Zukunft zeigen. Vielleicht gehört sie zunächst nur in den Bereich der Drohkulisse angesichts der Bonner Konsensverhandlungen. Den Strom über solch weite Strecken zu transportieren rechnet sich eigentlich nicht, da die Netzverluste mit steigender Entfernung größer werden und zudem die Gebühren für die Stromdurchleitung durch fremde Netze auch ins Gewicht fallen.

Offene Netze - Strom als Handelsware

Das Herzstück der Energiereform ist der offene Netzzugang für Verbraucher und Versorger. Die EVUs müssen ihre Übertragungsnetze von allen anderen unternehmerischen Aktivitäten trennen (Unbundling) und in Zukunft als gesonderte Betriebsabteilung führen - mit eigener Bilanz, eigener Gewinn- und Verlustrechnung und eigenen Konten. Die Netze müssen diskriminierungsfrei für Durchleitungen zur Verfügung gestellt werden. Die Zugangsbedingungen dürfen nicht ungünstiger sein, als sie in vergleichbaren Fällen innerhalb des EVUs selbst sind. Durch diesen diskriminierungsfreien Netzzugang wird der Strom zur ganz normalen Handelsware.

Unternehmen und Privatleute werden nun also vor die Frage gestellt: "Wie kaufe ich Strom ein?" Hier zeigt ein Blick ins Ausland, wie beispielsweise nach England, Norwegen, Schweden oder Kalifornien/USA, wo es bereits liberalisierte Energiemärkte gibt, wohin die "Reise" geht. Kennzeichen eines wettbewerblich geöffneten Energiemarktes ist, daß sich ein Spotmarkt für Strom etabliert. Dort wird Strom zu jeweils schwankenden Stundenpreisen ge- oder verkauft. Es werden sich auch Termin- und Optionsmärkte zur Absicherung des Strompreises herausbilden, analog dem vom Aktienmarkt her bekannten Derivatenhandel.

Einige Stromhändler sind schon auf dem deutschen Markt aktiv, um sich eine gute Ausgangsposition zu verschaffen. Dabei handelt es sich überwiegend um ausländische Unternehmen wie beispielsweise ENRON Energie, Bergen Energi und Vasa Energy. Diese Unternehmen haben bereits in ihren heimischen Energiemärkten Erfahrungen mit dem Stromhandel gesammelt und expandieren jetzt mit diesem Know-how nach Deutschland. Dies zeigt, wie interessant der deutsche Strommarkt für ausländische Akteure ist.

Ob sich im liberalen Strommarkt ein florierender Handel mit der Ware Strom entwickelt oder nicht, hängt entscheidend von den Bedingungen für den Netzzugang ab. Die Stromnetze sind verbleibende Monopole und in der Regel von den Beteiligten zu nutzen. Damit soll verhindert werden, daß neue Stromleitungen wie Pilze aus dem Boden schießen. In einigen Fällen werden sich allerdings auch Direktleitungen vom Erzeuger zum Verbraucher lohnen.

Um allen Beteiligten einen freien Zugang zu den Stromnetzen zu sichern, haben sich der Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. (BDI), der Verband der industriellen Energie- und Kraftwirtschaft e. V. (VIK) und die Vereinigung deutscher Elektrizitätswerke e. V. (VDEW) Anfang April 98 auf eine "Verbändevereinbarung über Kriterien zur Bestimmung von Durchleitungsentgelten" geeinigt. Ziel der Vereinbarung ist es, einfache und transparente Prinzipien für die Berechnung der Stromdurchleitung vorzugeben als Grundlage für individuelle Durchleitungsverträge zwischen Netzbetreiber und Netznutzer.

Darin ist für die Höchstspannungsebene ab einer Entfernung von mehr als 100 Kilometern ein entfernungsabhängiger Tarif von 12,50 Mark pro kW und Jahr vorgesehen. Auf den darunterliegenden Spannungsebenen werden die Kosten unabhängig von der Entfernung mit Pauschalen abgegolten (sogenannter Briefmarkentarif). Grundsätzlich sollen die Entgelte für die Netzbetreiber kostendeckend sein.

Ein Industriekunde mit Anschluß an das Höchstspannungsnetz (220/380 kV) muß bei einer Nutzungsdauer von 6.000 Stunden pro Jahr, einer Luftlinienentfernung zum Erzeuger von 200 Kilometern und einer Durchleitungsleistung von 25 MW mit einem Durchleitungsentgelt von rund einem Pfennig pro Kilowattstunde rechnen. Bei einer Entfernung von 650 Kilometern verdoppelt sich der Preis auf rund zwei Pfennig pro Kilowattstunde. Das bedeutet, daß der nur 200 Kilometer weit entfernte Stromerzeuger einen Preisvorsprung von rund einem Pfennig pro Kilowattstunde gegenüber dem 650 Kilometer weit entfernten Stromerzeuger hat.

Die Verbändevereinbarung soll zunächst bis zum 30. September 1999 gelten. BDI, VDEW und VIK sind sich einig, daß die Durchleitung auch danach auf der Grundlage einer Verbändevereinbarung stattfinden sollte. Sie werden sich daher rechtzeitig auf notwendige Änderungen aufgrund der dann zwischenzeitlich gemachten Erfahrungen verständigen und die Gespräche so frühzeitig fortsetzen, daß ohne Unterbrechung eine Anschlußregelung möglich wird. Sollte sich die Verbändevereinbarung in der Praxis nicht bewähren, wird das Bundesministerium für Wirtschaft eine Rechtsverordnung erlassen. Aus Sicht kritischer Stromverbraucher festigt die Verbändevereinbarung die Monopolstellung der EVU, da sie durch überzogene Durchleitungsgebühren den Versorgerwechsel erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen.

Haushalte werden geschröpft

Die grüne Bundestagsabgeordnete Michaele Hustedt machte ihre eigenen Erfahrungen mit dem liberalisierten Strommarkt. Sie bezieht ihren Strom in Bonn jetzt aus einem Windpark in der Eifel. Für diesen Strom zahlt sie statt der bisherigen 27,49 Pfennig an die Stadtwerke Bonn 43 Pfennig. Der entscheidende Kostenfaktor hierbei ist die Höhe der Durchleitungsgebühr, die der Stromlieferant VASA Energy künftig an die Netzbetreiber Stadtwerke Bonn und RWE überweisen muß: sie beträgt 18,22 Pfennige. Hinzu kommen noch Meßkosten für das Ablesen des Zählers in Höhe von 69,60 DM pro Jahr. Diese 18,22 Pfennige Durchleitungsgebühr entsprechen in keinster Weise den Selbstkosten, die sich RWE und Stadtwerke Bonn selbstverständlich für den Betrieb der in ihrem Besitz befindlichen Stromleitungen in Rechnung stellen müssen. Die Vergleichswerte in Skandinavien liegen bei 4-6 Pfennigen. Grundsätzlich ist also der private Wechsel des Stromerzeugers möglich - nur die Mehrkosten sind ein Skandal.

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace hat mittlerweile bundesweit ca. 60.000 Privatkundinnen und -kunden - darunter ca. 1.000 Gewerbebetriebe - registriert, die ab 2000 den Strom von einem Anbieter beziehen wollen, der weder Atom noch Kohle und mindestens die Hälfte aus regenerativen Quellen für die Stromproduktion einsetzt. Dieser Strom dürfe 20 Prozent mehr kosten als herkömmlicher Strom. Zudem müssen der oder die Stromversorger eine Reihe ökologischer Kriterien erfüllen. Interessant an den Vorgaben von Greenpeace ist, daß der Stromlieferant keinerlei Verflechtungen mit Atomstromkonzernen haben darf. Bis Juni soll geklärt sein, ob es einen solchen Anbieter in Deutschland überhaupt gibt. Die VASA Energy, die von der grünen Abgeordneten Hustedt gewählt wurde, kommt auf jeden Fall nicht in Frage, denn die ist mit der schwedischen Vattenfall AB verflochten. Letztere betreibt die AKW Ringhals und Forsmark.

Jürgen Siebert


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