akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 424 / 18.03.1999

Grüne setzen zum Sprung an

Realos und Regierungslinke suchen den Weg aus der Krise

Der Schock über die Niederlage bei den hessischen Landtagswahlen am 7. Februar sitzt tief bei den Bündnisgrünen. Eine Reform der Partei an Haupt und Gliedern soll die Lösung sein - meinen die einen; die anderen sprechen sich für eine politische Umorientierung aus. Neue Themen müßten besetzt, der Wettbewerb mit der FDP um die "leistungsstarken Mittelschichten" gesucht werden.

In Hessen sind die Bündnisgrünen mit rund sieben Prozent auf das Niveau abgesackt, das sie bei der Bundestagswahl im September 1998 im Westen erreichten. Noch 1995 hatten sie in Hessen über elf Prozent erreicht. Der Verlust von vier Prozentpunkten innerhalb von vier Jahren ist außergewöhnlich groß ausgefallen, insgesamt liegt er im Trend. Seit den Bürgerschaftswahlen in Hamburg im September 1997, wo sie 0,5 Prozentpunkte hinzu gewannen, gab es für die Grünen nur Verluste. Im März 1998 verloren sie in Niedersachsen 0,4% und landeten bei 7%. Bei den Wahlen in Sachsen-Anhalt im April 1998 flogen sie mit 3,2% (vorher 5,1%) aus dem Landtag. Abwärts ging es auch bei den drei Wahlen im September 1998: 5,7% (minus 0,4%) in Bayern, 6,7% bei der Bundestagswahl (gegenüber 7,3% 1994), und in Mecklenburg-Vorpommern wurden die mageren 3,7% vier Jahre zuvor noch einmal um einen Prozentpunkt unterschritten. (1)

In großer Sorge

In Hessen schockierten die Grünen vor allem ihre Verluste bei den Erst- und JungwählerInnen. Dort stimmten von den ErstwählerInnen 43% für die CDU, 31% für die SPD und lediglich 9% für Bündnis 90/Die Grünen. Bei den unter 30jährigen verlor die Partei 11Prozentpunkte, dagegen legte die Union in dieser Altersgruppe um 10 Prozentpunkte zu.

Ob das Debakel hausgemachten Fehlern der hessischen Grünen oder doch einer Krise der Gesamtpartei geschuldet ist, darüber gibt es in der Partei unterschiedliche Ansichten. Christian Ströbele, einer der letzten Altlinken in ihren Reihen, kritisierte den "verbrauchten Eindruck" des hessischen Landesverbandes. Verantwortlich dafür sei vor allem, daß die Hessen "etwas aufgegeben" hätten, was die Grünen "ansonsten auszeichnet: Alle Flügel in Regierung und Parteiführung einzubinden". (Freitag, 19.2.99)

In der Zeitschrift Andere Zeiten, die zum Umfeld des bundesweiten linken "Babelsberger Kreis" gehört, bezichtigten hessische Grüne ihren Landesverband des "Ökoliberalismus". "Im Vorfeld der Landtagswahlen lancierten Joschka Fischer und der Fraktionsvorsitzende Alexander Müller mehrmals in der Öffentlichkeit die Forderung an die eigene Partei, daß die Grünen das politische Erbe der FDP antreten müßten, und der Beginn dieser Auseinandersetzung sei die Hessenwahl. Statt der Stimmengewinne aus der WählerInnenklientel der FDP", so wird genüßlich festgestellt, "mußten die Grünen sogar Stimmen an sie abgeben." (Andere Zeiten, 1/99)

Da nicht sein kann, was nicht sein darf - daß nämlich der Realo-Landesverband Hessen mit seiner Strategie gescheitert sei -, meldete sich Daniel Cohn-Bendit via taz zu Wort. Den Grünen fehle es schon seit geraumer Zeit an Aufwind: "Die Themen, mit denen die Partei in den 80er Jahren groß wurde - Ökologie, Frauen und Frieden -, lassen sie nicht ohne weiteres vor dem Wind segeln." Und er warnte: "Wie immer nach Wahlniederlagen wird der wohlfeile Ruf nach grünem Profil erschallen. Doch grünes Profil zeigt nicht, wer unbeirrt auf Minderheitspositionen schwört, sondern wer durch Politik und Kommunikation Reformmehrheiten zu bilden versteht." (taz, 12.2.99)

Gunda Röstel, die Reala im noch quotierten Bundesvorstand, stößt in ihrem Papier "Für einen politischen Neuanfang von Bündnis 90/Die Grünen" in dasselbe Horn. (2) Wie Cohn-Bendit behauptet sie, die traditionellen Themen der Grünen - Umwelt, Frieden, Gleichberechtigung und Bürgerrechte - würden die Partei nicht mehr tragen. Die Bemühungen der Vergangenheit, das thematische Spektrum der Partei über Ökologie und Bürgerrechte zu erweitern - "dazu gehört auch Joschka Fischer mit seinen Büchern" - müßten intensiviert werden. Die Partei solle sich den Menschen zuwenden, "die mitten in der Gesellschaft das Ferment des ökologischen und ökonomischen Fortschritts sind oder sein können. Wir müssen uns konzentrieren auf die engagierten Macher, auf die engagierten Verantwortungsträger." Anstatt wie in der Vergangenheit die Menschen am "Reformrand" der Gesellschaft anzusprechen, fordert Röstel, die "gesamte Partei- und Programmarbeit" müsse klar machen, "daß wir auch Bänker, die Managerin, die Geschäftsführerin, den Teamchef bei uns haben wollen".

Notwendig sei es für die Bündnisgrünen, sich als die "wahren Modernisierer" zu profilieren, dabei aber auch die eigene "wertkonservative Grundhaltung" nicht zu vergessen. Ansonsten drohe der Partei, zwischen den "Showmodernisierern der SPD und den Scheinmodernisierern der PDS zerreiben zu werden". (3)

Mehr als ein Warnsignal sei die Hessenwahl gewesen, findet auch Hubert Kleinert, Weggefährte Joschka Fischers und Realo der ersten Stunde. "Die angeblich moderne Mittelschichtspartei Grüne kommuniziert inzwischen in vielem schlicht an der Gesellschaft vorbei. Die achtziger Jahre sind lange vorbei", so singt er das bekannte Lied. Stärker als bisher müßten deshalb Themen und "Profilierungsfelder" nach vorne gebracht werden, um aus der Flügelposition herauszukommen, die man in der Bonner Koalition einnehme. (GALintern, 3/99)

Joschka Fischer meint: "Wir dürfen nicht verharzt die Ideologiedebatten der Vergangenheit führen oder im Stillstand verharren." Seine Sprechblasen erreichen Kohlsche Qualität: "Programmatische Öffnung, Neugier, Begeisterung und Dialog mit der Gesellschaft sind jetzt notwendig. Programmatische Erneuerung, personelle Öffnung und Organisationsreform gehören unlösbar zusammen." (Spiegel, 9/99)

Damit war der Startschuß für jene Debatte gegeben, die die Bundesdelegiertenkonferenz in Erfurt vom 5. bis 7. März bestimmte. Fischer hatte die Strukturreform der Grünen zur "Schicksalsfrage" erklärt. Doppelspitze, Trennung von Amt und Mandat, die Quotierung nach Geschlecht, Ost/West und Flügelzugehörigkeit - all das sollte nach seiner Meinung revidiert werden. Effizienz und Professionalität müsse Einzug bei den Grünen halten. Doch die Parteibasis verschloß sich diesem Ansinnen. Wolfgang Ullmann, scheidender Europa-Abgeordneter, sprach den meisten Delegierten aus der Seele, als er fragte, ob denn irgend jemand "im Saal meint, wir hätten die Wahl in Hessen verloren, weil wir zwei Sprecherinnen haben". (ND, 8.3.99) Nach der Strukturreform im November, bei der ein Parteirat gebildet wurde, war die Bereitschaft zur Aufgabe der letzten basisdemokratischen Reste bei der grünen Basis nicht vorhanden. Fischer, Trittin, Schlauch & Co. sind vorerst gescheitert. Mit Ablauf der Amtsperiode des jetzigen Bundesvorstandes wird es aber sicher zu einer Neuauflage der Debatte kommen.

Das Naheliegende ist doch so fern

"Gleichgültig, ob man einem radikaldemokratischen und kapitalismuskritischen oder einem sehr mittelstandsfreundlichen, wertkonservativen Kurs anhängt - mindestens mittelfristig wird sich die Partei in Bund und Land auf klare Ziele einigen müssen" - so mahnte Micha Brumlik seine Partei. Quer durch die Grünen wird die Notwendigkeit einer programmatischen Grundsatzdiskussion und Zielbestimmung anerkannt. Brumlik plädiert dabei für eine ergebnisoffene Diskussion - dabei dürfe "die Einsicht nicht fehlen, daß weniger bisweilen mehr ist. Genauer: daß die Beteiligung an Regierungen - welcher Art auch immer - nur ein Instrument unter vielen ist, gesellschaftliche Innovationen einzuleiten". (taz, 9.3.99)

Damit wirft er eine Frage auf, die von allen Grünen momentan noch mit einem Tabu belegt wird, nämlich ob es nicht an der Zeit wäre, sich über den weiteren Verbleib in der Bonner Koalition ernsthaft Gedanken zu machen. Die Bilanz der ersten 100 Tage ist ja beileibe nicht berauschend. Egal ob beim Atomausstieg, der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts oder dem Einstieg in die Ökosteuer - den drei zentralen Reformvorhaben der Grünen, die sie auch in den Koalitionsvertrag hinüberretten konnten -, überall stoßen sie auf den Widerstand des Koalitionspartners und werden von ihm ausgebremst. Die linke Bundestagsabgeordnete Amelie Buntenbach kommentierte trocken: "Schröder macht faktisch eine große Koalition über die Öffentlichkeit."

Was ist die Konsequenz für führende linke Grüne? "Es wäre gefährlich, wenn die an einem Regierungsbündnis in Bonn beteiligten Parteien dem Glauben erlägen, sie bräuchten sich jetzt nur noch um das Regierungshandeln kümmern und könnten alle anderen Politikebenen und Politikformen - vom Opponieren in vielen Bundesländern bis hin zu Unterschriftensammlungen oder zur Massendemonstration am Bauzaun - einfach fallenlassen", mahnt beispielsweise Frieder O. Wolf, Wortführer des "Babelsberger Kreises". (Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/99) Wer aber mit dem Gedanken spielt, die Regierungsbank zu verlassen, begeht seiner Meinung nach einen schweren Fehler: "Politisierung ist auf allen Ebenen der Durchgangsprozeß zu wirklicher Innovation, während Entpolitisierung, ein Abfallen der politischen Spannung, fast zwingend zur politischen Entwicklungsblockade führt." So allgemein wie F.O. Wolf hier argumentiert, läßt sich alles legitimieren. Muß man auf allen Ebenen als Akteur präsent sein, um politisierend wirken zu können? Kann man nicht auch von außen und vermittelt dadurch "politische Spannung" erzeugen und aufrechterhalten? Dafür müßte man aber auch polarisieren wollen, Widerständen nicht vorauseilend ausweichen und die gesellschaftliche Auseinandersetzung suchen. Davon ist bei den Grünen nichts zu merken.

"Der Weg in die politische Mitte ist genauso unmöglich wie der Rückzug auf linken Traditionalismus" - so Ludger Volmer in seinen "Thesen zum Durchhänger der Grünen". (FR, 5.3.99) Die Linken in den Grünen können anscheinend nur noch in dieser Scheinalternative denken. Dabei hatten sie einmal versucht, genau dies mit ihren Überlegungen zum Verhältnis von Ökologie und Antikapitalismus zu durchbrechen.

Heute wünscht sich Volmer für seine Partei folgende Leitbilder: "ökologisch-sozialer Gesellschaftsvertrag, neuer Generationenvertrag, neue Aufklärung, modernisierungskritische Modernisierung, die Kraft der Sonne, politischer Pazifismus, Dialog der Kulturen ... Zu vermeiden sind die Worte ,Innovation` und ,Gestaltung`; sie sind Synonyme für grünes Scheitern".

Vielleicht kann er auf letzteres auch deshalb verzichten, weil seine Zielmarge etwas bescheidener ist als die seiner RealokollegInnen. Zielen sie auf gute 10 bis 15% der WählerInnen, indem sie die FDP beerben wollen, erkennt Volmer an, daß mehr als 5 bis 7% für die Grünen auf absehbare Zeit nicht zu holen sind. "Das kann reichen, um als Funktionspartei Regierungsmehrheiten zu bilden" - da ist man sich dann wieder einig. "Es reicht nicht, um Regierungspolitik zu bestimmen", fährt Volmer fort - hier fangen die Differenzen wieder an. Nur eins scheint klar, die Oppositionsrolle kommt für die Grünen nicht mehr in Frage - hier trifft sich Volmer mit Röstel -, weil man sich dabei nur auf die Ränder der Gesellschaft bezieht und dies nicht zur Stabilisierung der parlamentarischen Existenz der Partei ausreicht.

Inhaltliche Erneuerung ist angesagt. Statt nur vom Ausstieg aus der Kernenergie zu reden, soll nun der Einstieg in eine neue Energiepolitik in den Vordergrund gestellt werden. Das könnte man noch als Wechsel in der "Verkaufsstrategie" abtun. Aber es geht auch um eine inhaltliche Umorientierung hin zu sozialen und wirtschaftspolitischen Themen. Hier sind bislang die Realos und Neoliberalen der Partei bestimmend: Oswald Metzger, Christine Scheel, Manfred Berninger.

Schon seit einiger Zeit fällt auf, daß solche grünen Realpolitiker ihre Ansprech- und Bündnispartner in der SPD gewechselt haben. Gab es in den 80er Jahren Verbindungen zum linken SPD-Flügel, so sind die neuen Bezugspunkte Bodo Hombach, Sigmar Mosdorf (4) und andere SPD-Technokraten, die für das Modell der "Neuen Mitte" und des Umbaus des Sozialstaats nach britischem Vorbild stehen.

Klaus Dräger zeichnet folgendes Bild der grünen Partei: "Realpolitiker aller Couleur bekennen sich heißblütig zu Hombachs ,Angebotspolitik von links` und streiten sich nur darüber, ob man dabei schrittweise oder ,fundamentalistisch` nach dem Motto vorgehen solle, es müsse ein Ruck durch Deutschland gehen. Die Regierungslinke um Trittin, Volmer und Müller versucht sich derweilen zusammen mit Joschka Fischer in der Rolle als neue Parteimitte, die den Laden irgendwie zusammenhält. ... Währenddessen versucht eine im fachpolitischen Schachteldenken befangene grüne ,Restlinke` zu begreifen, warum sie in ihrem jeweiligen politischen Kleingarten nicht mehr durchsetzen konnte." (Andere Zeiten, 6/98)

Wer will bei diesen innerparteilichen Kräfteverhältnissen eigentlich noch den Sprung verhindern, der die Grünen auf einen Platz rechts von der Sozialdemokratie landen läßt?

mb., Berlin

Anmerkungen:

1) Angaben in Prozent, in Klammern die Ergebnisse der vorherigen Landtags- bzw. Bundestagswahl.

2) http://www.gruene.de/vorstand/roestel/neubeginn.htm

3) Der Übertritt des niedersächsischen MdL Christian Schwarzenberg von den Grünen zur PDS im Januar 1999, der der PDS ihren ersten Abgeordneten in einem westdeutschen Landtag bescherte, wird von Röstel zu einem regelrechten Horrorszenario ausgebaut: "Der Parteiübertritt ... symbolisiert für manche auch, daß die radikale Reformalternative PDS heißt. Es wäre tendenziell eine existentielle Bedrohung für uns, wenn uns das auch nur 2% im Westen kostet."

4) Vgl. u.a. den gemeinsamen Artikel von Hubert Kleinert und Sigmar Mosdorf: Renaissance der Selbständigkeit im Spiegel 13/97.


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