akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 423 / 18.02.1999

Alptraum ohne Ende

Was Rot-Grün bewirkt

Atommüll - der Stoff aus dem Alpträume sind: Alpträume der Menschheit, wenn sie sich bewußt macht, daß das strahlende Zeug immer weiter produziert wird, ohne irgendwo auf der Erde einen geeigneten Platz zur sicheren Lagerung für die nächsten Jahrmillionen zu kennen. Aber auch Alpträume der Atomindustriellen, die immer wieder befürchten müssen, daß der Weiterbetrieb der für sie profitablen Reaktoren an fehlender Entsorgung scheitert. Der Betrieb von Atomkraftwerken darf nur dann von den Behörden genehmigt werden, wenn die Betreiber einen "Entsorgungsvorsorgenachweis" vorlegen. Gelingt ihnen dies nicht, dann muß abgeschaltet werden. Für die Anti-AKW-Bewegung ergibt sich nun die Chance, durch politische Aufklärung und direkten Widerstand gegen "Entsorgungs"-Projekte und Atommüll-Transporte sämtliche Pseudo-Lösungen zu blockieren und damit - um es mit einem Wort des Bundesumweltministers zu benennen - "Verstopfungs-Strategie" zu betreiben. Die Atommüll-Politik der rot-grünen Bundesregierung hat in den letzten Wochen viel Bewegung in die Auseinandersetzung gebracht. Dadurch wurden Chancen vertan, aber auch neue Möglichkeiten eröffnet - wenn auch eher unfreiwillig.

Ich beschränke mich im folgenden auf die Frage der Zwischenlagerung und des Transportes von abgebrannten Brennelementen und von hochradioaktiven Abfällen aus der Wiederaufarbeitung. Denn in diesem Bereich gab es die meiste Bewegung.

Entscheidend beim politischen Ringen um die öffentliche Meinung in Sachen Atommüll war und ist, ob das, was die Atomwirtschaft Entsorgung nennt, auch als Lösung des Problems anerkannt wird. "Das bisherige Entsorgungskonzept für die radioaktiven Abfälle ist inhaltlich gescheitert und hat keine sachliche Grundlage mehr." So steht es im rot-grünen Koalitionsvertrag. Das klingt sehr stark nach dem, was die Anti-Atom-Bewegung schon immer sagt. Doch weil Schröder, Müller und Trittin es nicht dabei belassen, entsteht im weiteren Text ein anderes Bild. Da ist vom Endlager ab 2030 und von der Standortsuche die Rede, als wäre es kein Problem, bis dahin eine entsprechend sichere Lagerstätte zu finden. Da sollen neue Zwischenlager an den AKWs entstehen. Summa summarum wird mit aller Gewalt vermieden, das Atommüll-Dilemma als Hebel für den Ausstieg aus der Atomenergie einzusetzen.

Konzepte und Nachweise

In den Monaten nach der Regierungsbildung sind dann die Äußerungen von Jürgen Trittin alle nach dem gleichen Muster gestrickt: Einerseits tut er so, als wären die Reaktoren praktisch schon stillgelegt und jede Diskussion über Atommüll nur noch unter dem Aspekt zu betrachten, was nach dem Ende der Atomstromproduktion mit den strahlenden Abfällen geschehen muß. Andererseits nimmt er den Weiterbetrieb der AKWs als unabänderliches Faktum hin und spielt den obersten Müllmann: "Teile der Anti-AKW-Bewegung lehnen die Zwischenlagerung ab, sie lehnen weitere Transporte ab, und sie lehnen den Transport von Atommüll ab. Alles zusammen ist aber nicht zu haben. Da muß man sich entscheiden."

Als die Bundesregierung am 13. Januar - mit sehr kurzer Halbwertszeit - beschließt, die Wiederaufarbeitung zum Jahresende '99 zu verbieten, setzt sich der Minister vehement für Rücktransporte aus Frankreich und Großbritannien ein und stellt die Sache so dar, als ob jeder Castor-Transport zukünftig ein Schritt zum Atomausstieg sei.

Unterm Strich bleibt der Eindruck, als ob die neue Regierung, wenn auch etwas unkoordiniert aber intensiv, doch neuen Entsorgungskonzepten feilt. Der Umstand, daß es eigentlich keine sichere Entsorgung geben kann, gerät dabei immer mehr aus dem Blickfeld.

Das gleiche Bild bei der Frage der dezentralen Zwischenlager an den Kraftwerksstandorten. Nachdem bekannt wurde, daß am AKW Lingen eine Halle für 120 Castor-Behälter gebaut werden soll und damit noch 30 weitere Jahre Reaktorbetrieb abgesichert werden können, betreiben die Spitzen der Grünen Realpolitik pur:

"Mit ihrem Vorhaben, im emsländischen Lingen ein Zwischenlager einzurichten, weisen die Dortmunder VEW den anderen Energieversorgern den richtigen Weg." meint beispielsweise die grüne Vorstandssprecherin Gunda Röstel. "Die Dortmunder haben damit die Zeichen der Zeit erkannt. Unabhängig vom Ausgang der Energiekonsensverhandlungen (! Anm. d. A.) wären deshalb alle AKW- Betreiber gut beraten, dem Beispiel der VEW zu folgen."

Und Bärbel Höhn, grüne Umweltministerin von NRW, betreibt Kirchturmpolitik: "Die Betreiberfirma gibt damit ein positives Beispiel, dem andere Stromkonzerne folgen sollten. Aus NRW-Sicht ist vor allem erfreulich, daß das Zwischenlager in Ahaus nun entlastet werden kann."

Ach, selige Zeiten, als noch nicht alles schöngeredet werden mußte, sondern Klartext vorherrschte. Noch 1997 erklärte Rainer Baake, damals grüner Staatssekretär im hessischen Umweltministerium (inzwischen Staatssekretär in Bonn): Die CDU/ FDP-Bundesregierung "versucht - gedrängt durch die Stromwirtschaft - in sogenannten Konsensgesprächen noch vor der Bundestagswahl die Entsorgungsvorsorge einzuschränken. Die Zwischenlagerung soll als Entsorgungsvorsorgenachweis - entgegen der Rechtslage - einvernehmlich zwischen Bundesregierung und SPD anerkannt werden."

Baake ging noch weiter: Er wollte vom Betreiber des AKW Biblis den Nachweis, wie denn die Entsorgung gesichert sei, denn die Wiederaufarbeitung im Ausland sei keineswegs die im Atomgesetz geforderte "schadlose Verwertung". Die damalige Bundesumweltministerin Merkel untersagte das. Wir dürfen gespannt sein, wann der neue Bundesumweltminister zum erstenmal den Weisungshammer schwingt.

Entsorgungsrealitäten

Kommen wir nun zu den harten Fakten in Sachen Atommüll: Die AKW- Betreiber sind darauf angewiesen, daß in den kraftwerksinternen Lagerbecken für abgebrannte Brennelemente regelmäßig Platz geschaffen wird, da jährlich beim Brennelementewechsel ein beträchtlicher Teil der Kernladung ausgetauscht werden muß. Aufgrund des seit Sommer 1998 bestehenden Transportestopps geraten manche Kraftwerke langsam, aber sicher in die Enge.

Wäre der von der Bundesregierung anvisierte Stopp der Wiederaufarbeitung zum 1. Januar 2000 in Kraft getreten, hätte dies schwerwiegende Folgen für die Betreiber gehabt. In 16 der 19 Kraftwerke, so erklärte RWE-Chef Dietmar Kuhnt, "haben wir keine ausreichende Lagerkapazität für Brennelemente." Schon innerhalb von drei Jahren hätten 12 Reaktoren abgeschaltet werden müssen.

Doch Rot-Grün beruhigte die Betreiber und erklärte, daß durch "die neue Regelung der Entsorgung der Betrieb der Kraftwerke in keiner Weise behindert werden darf." Entsprechende Genehmigungen für "Behälter, Einlagerung, Transporte" seien laut Vereinbarung zu gewährleisten. Noch mal zum Mitdenken: Dieselbe Bundesregierung, die sich angeblich den Atomausstieg auf die Fahnen geschrieben hat (wahrscheinlich nur auf die Fahnen), beschließt, "daß der Betrieb der Kraftwerke in keiner Weise behindert werden darf."

Zur Behebung der Lagerengpässe schlug Trittin zuerst den massenhaften Bau neuer Zwischenlager-Hallen vor. Doch die Betreiber monierten "technische Probleme", weil Genehmigung und Bau dieser Hallen bis zu sechs Jahren dauern könne. "Kann sich jemand vorstellen", so PreussenElektra-Chef Hans-Dieter Harig, "daß an 20 Standorten in Deutschland Zwischenlager genehmigt und für eine vorerst unbegrenzte Lagerung auch hochradioaktiver Abfälle genehmigt werden können? Das ist genehmigungsrechtlich nicht zu bewältigen."

Und für manchen Kraftwerktyp, etwa für Stade, gibt es überhaupt noch keine genehmigten Castoren. "Es ist schlicht unmöglich, so kurzfristig Lagerbehälter zu beschaffen", meint Harig, "für Stade bedeutet der Wiederaufarbeitungsstopp deshalb den impliziten Stillegungsbescheid."

Um dies zu verhindern, bietet Trittin als nächstes an, bis zur Fertigstellung der dezentralen Zwischenlager Transporte nach Gorleben und Ahaus durchzuführen. Die Betreiber tragen dick auf und verlangen, daß die Bundesregierung dann jährlich 100 Transporte ins Münsterland und Wendland absichern müßte.

Doch Niedersachsens Innenminister Heiner Bartling (SPD): "Mehr als ein Transport ist undenkbar, wenn der Widerstand nicht endet". . Und er nimmt an, "daß sich der Widerstand in der Bevölkerung gerade auch wegen der rot-grünen Bundesregierung noch einmal wesentlich erhöhen wird".

Rot-grün hat relativ wenig Interesse, verantwortlich für neue Polizeieinsatz-Rekorde zu sein. Deshalb wird kurz vor der ersten offiziellen Konsens-Runde nochmals umgeschwenkt, der kurzfristige WAA-Stopp wird zurückgenommen. Jetzt soll jedes AKW so lange weiter nach La Hague und Sellafield transportieren dürfen, bis jeweils die neue Lagerhalle auf dem Kraftwerksgelände fertiggestellt ist. Und Jürgen Trittin wird vom Sprecher der Atomstromer - dem HEW-Chef Manfred Timm - öffentlich dafür gelobt, daß er nochmals versprochen hat, keine "Verstopfungs-Strategie" zu fahren.

Als nächsten Schritt zur Verhinderung einer "Verstopfung" erwartet die Stromzunft nun, daß Trittin den Merkelschen Transportestopp aufhebt. Schließlich werden noch in diesem Jahr bei sechs AKWs die Abklingbecken voll sein.

Im Umweltministerium wurde ein Drei-Stufen-Plan für die Wiederaufnahme der Transporte erarbeitet. Danach sollen in jedem AKW Tauchtests mit Behältern vorgenommen werden. So sollen "Vollschutzhemden" erprobt werden, die die Castoren beim Beladen vor Radioaktivität schützen sollen Die zweite Stufe besteht aus drei bis fünf Probetransporten unter wissenschaftlicher Begutachtung. Erst danach sollen routinemäßig Transporte möglich sein.

Die Konzerne wollen keine Garantie für "kontaminationsfreie" Transporte geben. Sie argumentieren, daß selbst nach vollständiger Abdichtung und Reinigung der Behälter leichte, "gesundheitlich unbedenkliche" Überschreitungen des Grenzwertes möglich seien. In Frankreich, so rechtfertigen sie dies, werde aktuell bei rund zehn Prozent der Atommülltransporte der Grenzwert von vier Becquerel pro Quadratzentimeter überschritten.

Doch die Atomiker haben noch mehr "technische" Probleme:

1. Für einige Kraftwerke gibt es zur Zeit keine benutzbaren Behälter, weil die Typen NTL 10 und NTL 3 bei Tests versagt haben und der NTL 11 nach einer Pannenserie ausfällt. Es gibt sogar Gerüchte, nach denen französische Behälter überhaupt nicht mehr zum Einsatz kommen sollen.

2. Einige Kraftwerke haben keine WAA-Verträge mehr, z.B. Gundremmingen und Neckarwestheim. Bei anderen sind nur noch wenige Transporte nach La Hague oder Sellafield nach den Altverträgen möglich, z.B. Lingen und Krümmel. Danach müßten die Transporte von diesen Reaktoren doch nach Gorleben und Ahaus rollen.

3. Doch Transporte von den AKWs in die Zwischenlager sind so lange nicht möglich, wie das Problem der Restfeuchte in der Deckeldichtung nicht geklärt ist. Dieses Problem ist nun endlich auch der Bundesanstalt für Materialprüfung bei Beladetests in Greifswald aufgefallen. Damit ist das gesamte Behälterkonzept für die Langzeitlagerung in Frage gestellt. Umfangreiche Prüfungen und Testreihen sind anberaumt.

Es wird interessant, zu erleben, wie die Bundesregierung in diesen sicherheitsrelevanten Bereichen durchsetzt, daß durch "die neue Regelung der Entsorgung der Betrieb der Kraftwerke in keiner Weise behindert werden darf."

Manche Chancen erhalten soziale Bewegungen nur einmal. Derzeit besteht die reale Möglichkeit, die Reaktoren reihenweise vom Netz zu blockieren und gleichzeitig einen schnelleren Stopp der Wiederaufarbeitung durchzusetzen, als ihn Atomwirtschaft und Bundesregierung gerne hätten.

Wer in diesem Ansinnen einen Anflug von Größenwahn vermutet, dem sei eine einfache Rechnung nahegelegt: Entscheidend ist nicht, ob bei jedem Transport Tausende präsent sind, sondern daß die Polizei beim ersten Transport so viele Überstunden macht, daß erstmal Ruhe ist. Wir wissen von Gorleben und Ahaus, daß die Polizei kräftemäßig pro Jahr nur einen 30.000-Mann/Frau-Einsatz schafft. 30.000 PolizistInnen sind dann nötig, wenn ca. 10.000 QuerstellerInnen erwartet werden. Schafft es die Anti-AKW-Bewegung also, zum ersten Transport 10.000 Menschen zu mobilisieren, dann war dieser erste Transport - ob er durchkommt oder nicht - auch der letzte für etwa 12 Monate. Selbst wenn zwei solche Großeinsätze möglich sind, reicht das noch lange nicht aus, um die Entsorgungsengpässe zu beseitigen.

Auf gehts - Widerstand

Wenn alle Menschen, die die Nutzung der Atomenergie aus den unterschiedlichsten Gründen für unverantwortbar halten, in den nächsten Monaten selbst aktiv dafür sorgen, daß keine Castor-Transporte mehr rollen, dann wird das die AKW- Betreiber in größere Schwierigkeiten bringen, als alle rot-grünen Ausstiegs-Rhetorik zusammen.

Schön ist an dieser erfolgversprechenden Handlungsperspektive auch, daß da nicht "nationale Interessen" gepflegt werden, sondern in enger Zusammenarbeit mit Initiativen aus Frankreich und Großbritannien gemeinsamer Widerstand entsteht.

Und es gibt weitere Gründe für eine atomare Verstopfung zu sorgen. Dabei besteht die Hoffnung, daß viele Menschen das ähnlich sehen, entsprechend handeln und so der Versuch erfolgreich ist.

1. Der Transporte-Stopp schafft klare Verhältnisse: Es kann gegen den "1. Transport" mobilisiert werden. Das gab es beim bisherigen Widerstand gegen WAA-Transporte nicht. Da mußte sich die Bewegung immer einen X-beliebigen aussuchen.

2. Stopp der WAA: Die "Verstopfungs-Strategie" hat natürlich Grenzen, denn es sollen Zwischenlager an den AKWs gebaut werden. Auch ist den Betreibern zuzutrauen, daß ihnen noch was einfällt - schließlich geht es um sehr viel Geld. So hat Michael Sailer (Öko-Institut) vorgeschlagen, die Brennelemente doch einfach in Castor-Behälter zu packen und diese unter offenem Himmel auf dem Kraftwerksgelände zu lagern. Er nennt das "Transport-Bereitstellungs-Lagerung".

Sollte also wegen der beschriebenen "Hintertürchen" nicht sofort die Stillegung vieler AKWs erreicht werden, so rollt wenigstens kein oder kaum mehr Müll zur WAA. Dann schafft die Bewegung das, was die Bundesregierung nicht geschafft hat. Und außerdem erhöht jeder X-tausendfache Widerstand gegen Transporte den politischen Druck auf die gesamte Atomenergie-Nutzung.

3. Unterstützung des Widerstandes gegen dezentrale Zwischenlager: Die Arbeit an den Standorten gegen neue Castor-Hallen ist durch die neue Atommüll-Absprache zwischen Regierung und Atomindustrie in einer schwierigen Lage. Da der Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung an die Fertigstellung der Zwischenlager gekoppelt ist, könnte jede Verzögerung bei der Errichtung der Hallen in der öffentlichen Debatte leicht als kontraproduktiv für den WAA-Ausstieg dargestellt werden. Nur wenn gleichzeitig die Transporte verhindert werden, ist also starker Druck gegen die neuen Zwischenlager möglich.

Für die Anti-Atom-Bewegung ergeben sich aus der neuen Situation konkrete und erfolgversprechende Handlungsoptionen. Dabei können die Initiativen auf große Unterstützung aus der atomkritischen Öffentlichkeit rechnen, denn viele sind völlig enttäuscht von Rot-grün.

Also: Die internen Atommüll-Lager platzen. Die Atomindustrie reagierte erst panisch, scheint durch die Erlaubnis, weiter zur WAA transportieren zu können aber beruhigt. Und die AtomkraftgegnerInnen? Ran an die WAA-Transporte! Vielfältiger Widerstand ist angesagt. Wir lassen sie nicht mehr raus: "Verstopfungs-Strategie" und Stopp der Wiederaufarbeitung. Gleichzeitig Sand ins Getriebe bei Genehmigung und Bau der neuen Zwischenlager. Wann, wenn nicht jetzt?

Jochen Stay


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