akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 423 / 18.02.1999

Vertreibung aus dem Paradies

Über die Rückstellungen für atomare Entsorgung

Wie lange werden die Atomreaktoren noch laufen? Wie lange wird die Wiederaufarbeitung und damit die Plutoniumwirtschaft noch betrieben? Über diese Fragen tobt seit Ende letzten Jahres eine massive und anhaltende Debatte. Die Betreiber sind in diese Auseinandersetzung voller Selbstbewußtsein gegangen, so, als hätte es nicht eben erst den Castorskandal gegeben. Bis heute hat man den Eindruck, als wären sie sich vollkommen sicher, daß, was immer sie wollen, letztlich von Schröder auch zugestanden wird. Und die vielen Einzeltreffen zwischen Schröder und Atomwirtschaft, die langjährigen engen Beziehungen zwischen dem ehemaligen VEBA-Vorstand, Schröder-Vertrauten und jetzigen Wirtschaftsminister Müller bestärken den Verdacht, daß der Kanzler schon vor der Wahl den jetzt öffentlich inszenierten Konsens unter Dach und Fach gebracht hatte. Ach, immer diese Verschwörungstheorien ...
Erstaunlich ruhig ist es jedoch im Zentrum der Atomwirtschaft. Hier liegen rund 55 Milliarden DM, die die Atomkraftwerksbetreiber für die Entsorgung und den Abriß der AKWs zurückgestellt haben. Diese Rückstellungen sind das Herzstück der Atomwirtschaft, sie sind steuerfrei, sie stehen den Unternehmen zur völlig freien Verfügung und sie mindern außerdem die auszuschüttenden Gewinne der Atomversorger. Paradiesische Zustände. Und eben die Vertreibung aus diesem Paradies fürchten die Atomwerker, wenn sie nun aus Wiederaufarbeitung und Atomenergie aussteigen sollen. Denn dann ist es vorbei mit den Rückstellungen.

Paradiesische Zustände

Die sogenannten Entsorgungsrückstellungen müssen von den AKW-Betreibern gebildet werden, um einerseits die Entsorgung des anfallenden Atommülls und andererseits den nach Stillegung fälligen Abriß der Anlagen zu finanzieren. Während die Kosten der Entsorgung des Atommülls von der Zwischenlagerung über die Wiederaufarbeitung bis hin zur Endlagerung während der gesamten Betriebszeit angesammelt werden, werden die Abrißkosten in der Regel in einem Zeitraum von 19 Jahren angespart. Diese Zeit ist identisch mit dem Abschreibungszeitraum der AKWs. Begründet wird die Bildung dieser Rückstellungen damit, daß durch die heutige Wirtschaftstätigkeit Kosten in der Zukunft ausgelöst werden. Um diese Kosten später bestreiten zu können, müssen sie heute über die Strompreise erwirtschaftet werden.

Was zunächst wie eine Last klingen mag, ist in Wirklichkeit ein wirtschaftlicher Jungbrunnen. Jahr für Jahr können die Unternehmen dreistellige Millionenbeträge in die Rückstellungen einführen und damit ein enormes Finanzpolster aufbauen. Allein die im Atomreigen eher kleinen Hamburgischen Electricitäts Werke (HEW), die an den vier Atommeilern Stade, Brokdorf, Brunsbüttel und Krümmel beteiligt sind und Hamburg zu fast 80 Prozent mit Atomstrom versorgen, haben inzwischen Rückstellungen in Höhe von rund fünf Milliarden DM angesammelt. Wie dieses Geld eingesetzt wird, ist ganz allein Sache des Unternehmens. Weder im Atomrecht, noch in irgendwelchen anderen Verordnungen oder Gesetzen gibt es Vorschriften, wie dieses Geld angelegt oder eingesetzt werden darf.

Mit Stand von 1996 hatten die Atomunternehmen auf diese Weise insgesamt 55 Milliarden DM angesammelt. Davon sind rund 30 Milliarden DM für die atomare Entsorgung (Zwischenlagerung, WAA, Endlagerung etc.) vorgesehen. Die restlichen rund 25 Milliarden DM sind für die Stillegung und den Rückbau der Atommeiler eingeplant. Läuft das Atomprogramm weiter, wie von den Unternehmen geplant, dann werden im Jahr 2023, wenn auch das letzte AKW nach 35 Jahren Laufzeit stillgelegt wird, die gesamten Rückstellungen auf insgesamt 102 Mrd. DM anwachsen.

Betrachtet man nur die bis heute gebildeten Rückstellungen für die Brennelemente, dann wird schnell klar, warum die AKW-Betreiber auch leidenschaftlich gern an der Wiederaufarbeitung festhalten. Denn gerade weil diese erheblich teurer ist (mindestens um das doppelte) als beispielsweise die langfristige Zwischenlagerung, können die Rückstellungen höher ausfallen.

Dadurch steigen die Rückstellungen Jahr für Jahr erheblich an. Das bringt bares Geld. Würden die Atombetreiber (was sie nicht tun) die Rückstellungen schlicht zur Bank bringen und dort verzinsen, so wären allein dies atemberaubende Einkünfte, für die sich manch mittelständischer Betrieb mehr als nur krumm machen müßte.

Bei einer Verzinsung von nur fünf Prozent bringen die bei den HEW angesammelten fünf Milliarden DM jährlich Einnahmen von 250 Millionen DM. Aber die Atomunternehmen sind ja nicht blöd und haben verglichen. Eine Kapitalverzinsung von fünf Prozent läßt sich ohne weiteres überbieten, wenn dieses Geld in andere Branchen gesteckt wird.

Variationen

Wen dies noch nicht weiter beeindruckt, der/die dürfte sich für folgende Betrachtungsweise interessieren. Müßten die Unternehmen die Zinsen aus den Rückstellungen wieder zu den Rückstellungen zurechnen (dynamisches Verfahren), statt sie einfach frei für andere Zwecke zu verwenden (statisches Verfahren), ergäbe sich folgendes Bild: Bezogen auf eine Betriebsdauer von 35 Jahren und einem Ansammlungszeitraum für die Rückstellungen zum Abriß der Anlage von 19 Jahren (und einigen weiteren Parametern, vgl. Öko-Institut 1998, S. 69ff) würden nach dem gegenwärtigen statischen Verfahren 11,3 Milliarden DM an Rückstellungen gebildet. Bei Anwendung des dynamischen Verfahrens müßten jedoch aktiv nur 7,9 Milliarden DM über die Stromrechnungen kassiert werden. Die Lücke würde durch die jährlichen Zinsen bzw. Erträge aufgefüllt.

Allein die Umstellung der Verfahren, nach denen die Rückstellungen gebildet werden, würde einen tiefen Einschnitt für die Atomunternehmen zur Folge haben. Erstens würde ihnen damit die freie Verfügung über die Zinserträge und so ihre enorme Liquidität genommen. Zum anderen könnten die Strompreise gesenkt werden, da etwa ein Drittel der erforderlichen Rückstellungen aus den Zinsen gedeckt würde. (Der Atomstrom würde daher billiger werden!) Warum eigentlich fordern Stihl und Henkel nicht endlich, die Modalitäten der Rückstellungsbildung zu ändern um den Standort Deutschland zu retten?

Das Vermögen der Atomunternehmen wird durch diese Rückstellungen auf gigantische Weise dominiert. So machen die Rückstellungen der RWE Energie (Beteiligungen an den AKWs Biblis A und B, Mühlheim Kärlich, Gundremmingen B und C und Lingen) inzwischen über 52 Prozent der Bilanzsumme aus. In Worten: 1996 machten die atomaren Rückstellungen die traumhafte Summe von 15 Milliarden DM aus und brächten bei einer fünf-prozentigen Verzinsung jährlich 750 Millionen DM an weiteren Einnahmen. Bei PreussenElektra waren es 1996 immerhin 39 Prozent, bei den Bayernwerken 44 Prozent, bei den Isar-Amperwerken 45 Prozent.

Diese Dominanz der Rückstellungen für die Unternehmensvermögen macht klar, warum sich die Konzerne doch ein wenig schwer tun, wenn es um den Atomausstieg geht. Denn dann würden diese Finanzpolster nicht nur nicht weiter anwachsen, sondern nach und nach abgeschmolzen. Für die Unternehmen droht also ein massiver sozialer Abstieg.

Sieht man sich die Daten und Fakten zu den Rückstellungen etwas detaillierter an, kommt man aus dem Grübeln gar nicht mehr raus, bzw. findet einen Haufen von Widersprüchlichkeiten. Überträgt man die bis heute angefallen Rückstellungen auf die Einheit Preis je erzeugter Kilowattstunde (Pf/kWh) und vergleicht diese mit den von der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW) und der Bundesregierung (1997) öffentlich genannten Kosten der Entsorgung, dann erscheinen die Atomvorstände als die trickreichsten Lügenbarone aller Zeiten. Nach diesen offiziellen Angaben belaufen sich die gesamten Entsorgungskosten auf 1,56 - 1,61 Pf je Kilowattstunde. Dabei soll laut Bundesregierung die Stillegung und der Rückbau Kosten in Höhe von 0,25 - 0,3 Pf/kWh verursachen, die Entsorgung der Brennelemente schlägt laut VDEW mit 1,31 Pf/kWh zu Buche. Bezogen auf die bis Ende 1996 erzeugte atomare Strommenge (rund 2,2 Millionen Gigawattstunden) ergibt diese eine Gesamtsumme von 33,5 - 34,6 Milliarden DM, die als Rückstellungen vorhanden sein müßten. Dieser Betrag macht aber nur 60 Prozent der tatsächlich vorhandenen Rückstellungen in Höhe von insgesamt 55 Mrd. DM aus.

Mit anderen Worten: die öffentlich genannten Kosten der Entsorgung und des Rückbaus der Atomanlagen stimmen nicht die Bohne mit der Wirklichkeit überein. Insgesamt 20 Mrd. DM haben die Vorstände zur Seite geschafft, ohne das sie bislang öffentlich erklären mußten, welche Kosten diesem Betrag gegenüber stehen. Die Betreiber rechnen also entweder intern mit erheblich höheren Kosten und/oder nutzen die Rückstellungen um die Steuerbelastung der Unternehmen zu reduzieren, die resultierenden Zinsen einzufahren und damit die Innenfinanzierung drastisch zu verbessern. Wirklich nicht blöd!

Das hier nicht einfach Unwissenheit der Finanzämter einem enormen Steuerbetrug Vorschub leistet sollte auch noch klargestellt werden. Schon 1991 hat die von der Bundesregierung eingesetzte Deregulierungskommission in ihrem Bericht zur "Marktöffnung und Wettbewerb" die Vermutung formuliert, daß die Atomunternehmen ihre aggressive Einkaufspolitik in andere Geschäftsfelder nur aufgrund "hoher verdeckter Gewinne im Zusammenhang mit überhöhten ... Abschreibungen und Rückstellungen" tätigen konnte. Mit andern Worten, was die Atomunternehmen im Bereich der Rückstellungen betreiben wird von der alten und der neuen Bundesregierung geduldet.

Es ist schon atemberaubend, mit welcher Dreistigkeit die Vorstände der Atomunternehmen ohne jede Schamesröte auch noch Entschädigungen für die Stillegung von Atommeilern verlangen, wenn man sich die enormen Gewinne aus den Rückstellungen ansieht. Aber Moral ist eben nicht Sache des Kapitals. Und Rechtsstaat ist eben Rechtsstaat.

Es ist sicher kein Zufall, wenn die gesamte Problematik der Rückstellungen in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung mit keiner Silbe erwähnt wird. Wurden sie einfach vergessen, in der Eile, mit der die neue Regierung geschmiedet wurde? Wohl kaum!

Es geht auch anders

Immerhin tobte bis Anfang 1998 eine durchaus auch öffentlich sichtbare Debatte über den Umgang mit den Rückstellungen. Ökologische SPDler, wie etwa Hermann Scheer, aber auch die Grünen und andere Umweltverbände hatten massiv die Praxis der Bildung der Rückstellungen kritisiert. Sie forderten, daß den Atomunternehmen die Verfügung über die Rückstellungen genommen werden muß. Das Wuppertaler Klima-Institut, deren Leiter der jetzige SPD-Abgeordnete Ernst Ulrich von Weizsäcker ist, schlug gutachterlich vor, die Rückstellungen in einen öffentlich-rechtlichen Fonds zu überführen und diese von beispielsweise einer Stiftung verwalten zu lassen. Einen entsprechenden Gesetzentwurf hatten die Grünen in der letzten Legislaturperiode bereits erarbeitet. Neben der Bezahlung der Entsorgungskosten war vorgesehen, die Zinseinnahmen für den Einstieg in die Energiewende zu nutzen. Eine vergleichsweise gute Idee. Statt mit dem Spielgeld, daß heute die Atomunternehmen in den Ausbau regenerativer Energien stecken, hätten so richtige Schritte für den verstärkten Einsatz von Solar- und Windenergie gemacht werden können, wäre es möglich, die Kraft-Wärmekopplung voranzubringen oder die Wärmedämmung im Wohnungsbestand in Angriff zu nehmen. Das würde nicht nur die vielzitierten Arbeitsplätze schaffen, sondern gleichzeitig auch noch einen aktiven Beitrag zur Senkung der CO2-Emissionen leisten.

Auch die Finanzminister aus Bund und Ländern hatten mit Blick auf die Haushaltslage die Rückstellungen entdeckt. Nachdem die Errichtung eines Endlagers nicht vor 2030 in Aussicht steht, hatten sich die Finanzminister darauf verständigt, die Bildung von Rückstellungen für die Endlagerung des Atommülls auf einen längeren Zeitraum zu strecken. Durch diese Maßnahme mußte ein Teil der bereits bei den Atombetrieben angesammelten Rückstellungen aufgelöst und versteuert werden. Geplant war überdies, die Ansammlung der Rückstellungen für den Abriß der Atomanlagen von derzeit 19 auf 25 Jahre zu verteilen. Auch diese Maßnahme hätte dazu geführt, daß die EVUs einen Teil der Rückstellungen hätten auflösen und versteuern müssen. Allerdings kam es dazu nicht, weil das Jahressteuergesetz 1997 (wegen anderer Probleme) im Bundesrat scheiterte. Diese Maßnahme hätte einmalig fast 1,4 Mrd. DM zusätzliche Steuereinnahmen gebracht, außerdem müßten die Unternehmen jährlich höhere Steuern entrichten oder die Strompreise senken.

Beide Vorgänge lassen es als höchst unwahrscheinlich erscheinen, daß die Bedeutung der Rückstellungen politisch (und finanziell) fatal unterschätzt worden sind. Sowohl die SPD als auch die Grünen wissen, das die Rückstellungen ein entscheidendes strategisches Instrument sind. Noch vor der Niederlage in der ersten Konsensrunde an der Frage Wiederaufarbeitung, hat die neue Bundesregierung in Sachen "Neuordnung der Rückstellungen" versagt bzw. der Atomwirtschaft ein richtig schönes Geschenk gemacht. Ob das dem Ausstieg dient?

Gegen das Entschädigungsgeheule und den Drohgebärden der Atomwirtschaft, aber auch gegen die neue Bundesregierung, sollte die Anti-AKW-Bewegung die Rückstellungen stärker in die öffentliche Debatte bringen. Die Gewinne, die die Atomkonzerne aus diesen Rückstellungen beziehen und seit Jahren massiv für den Aufkauf von Unternehmen in der Abfallbranche und der Telekommunikation einsetzen, basieren auf überzogenen Strompreisen. Und dieses Geld kommt vor allem von den Tarifkunden der Energieversorger, also den Haushalten und kleinen Gewerbebetrieben. Diese Kundengruppe bezieht beispielsweise bei den HEW lediglich 25 Prozent des verkauften Stroms. Demgegenüber resultieren aber 50 Prozent der Erlöse aus dem Stromverkauf aus dieser Kundengruppe. Die sogenannten Sondervertragskunden, also die Industrie, bezieht zwar 75 Prozent des von HEW verkauften Stroms, ist aber an den Stromerlösen nur mit ebenfalls 50 Prozent beteiligt. Bezogen auf den Stromverbrauch zahlen also die Tarifkunden den Löwenanteil an den Stromkosten und den Entsorgungsrückstellungen. Bei anderen EVUs sieht dieses Verhältnis nicht wesentlich anders aus.

Nimmt man den Atomunternehmen die Verfügungsgewalt über die Rückstellungen, dann dürfte es mit dem Ausstieg wohl erheblich schneller gehen. Dann nämlich bräuchten die Stromkosten der Atomkraftwerke nur noch schlicht gegen die Kosten anderer Erzeugungstechniken gerechnet werden. Und da wäre es schnell vorbei mit dem Atom.

DSe

Die Zahlen und Daten stammen weitgehend aus der vom Öko-Institut e.V. 1998 veröffentlichten Studie: Energiewirtschaftliche Bewertung der Rückstellungen für die Entsorgung und Beseitigung der deutschen Kernkraftwerke, Veit Bürger


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