akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 422 / 21.01.1999

Anti-AKW-Bewegung muß Widerstand neu ausrichten

Mit dem Ende der Castortransporte und der rot-grünen Regierungsübernahme steht die Anti-AKW-Bewegung vor neuen Rahmenbedingungen. Land auf, Land ab wird derzeit beraten, wie auf die neue Situation zu reagieren ist. In dieser Ausgabe drucken wir zwei Beiträge ab, die sich mit der Zukunft der Anti-AKW-Bewegung auseinandersetzen. Während Jochen Stay seinen Blick auf unmittelbar bevorstehende Aufgaben der Bewegung richtet und Vorschläge macht, setzt sich Fritz Storim mit dem autonomen Teil der Bewegung und ihrer Politik auseinander. Reaktionen und Einmischungen auf diese Artikel sind erwünscht. Die Red.

Die Atomindustrie und ihre FreundInnen aus Politik und Medien waren schon immer sehr begabt, wenn es darum ging, durch sprachliche Tricks den Schrecken der Technologie zu verharmlosen. Es sei nur daran erinnert, daß aufgrund von Marktforschungsergebnissen der negativ besetzte Begriff "Atomenergie" aus dem Wortschatz der Zunft gestrichen und durch "Kernenergie" ersetzt wurde. Es gibt zahlreiche Beispiele von Neuschöpfungen, die die Atomtechnik und ihre Gefahren in sanftes Licht tauchen: Entsorgungspark, Wiederaufarbeitung, Abklingbecken, Strahlenschutz ...

Jetzt gibt es einen neuen Begriff, dessen sich die Atomgemeinde offensiv annimmt, um ihn für ihre Zwecke umzufunktionieren: Der Ausstieg. Was vom gewöhnlichen Atomkraftgegner noch für ein Synonym für das zügige Abschalten der AKWs benutzt wird, bezeichnet inzwischen den geordneten Weiterbetrieb der Atomanlagen. Schweden z.B. hat bereit 1980 in einer Volksabstimmung den Ausstieg beschlossen. Seither ist kein einziger Reaktor vom Netz gegangen. Die Schweiz hat gerade verkündet, in 30 Jahren aus der Atomkraft aussteigen zu wollen. Bis dahin laufen die Kraftwerke weiter. Und wenn die rot-grüne Bundesregierung beschließt "den Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie innerhalb dieser Legislaturperiode umfassend und unumkehrbar gesetzlich zu regeln", dann bedeutet dies eben nicht, daß er vollzogen wird. Wenn es nach Gerhard Schröder und dem Wirtschaftsminister "Atom"-Müller geht, laufen die hiesigen AKWs noch mindestens zwei Jahrzehnte weiter.

Die Stromkonzerne selbst haben die neue Sprachregelung schon völlig intus: So verkünden die Vorstandsvorsitzenden von PreussenElektra, RWE und Bayernwerke regelmäßig in Interviews, daß sie natürlich den Ausstiegsbeschluß der neuen Bundesregierung respektieren, daß es in den Konsensgesprächen auch nicht mehr um das "ob" des Ausstiegs gehen soll, sondern eben nur noch um Restlaufzeiten. Diese gewünschten Restlaufzeiten werden dann aber mit bis zu 40 Jahren angegeben.

Das politische Koordinatensystem in der Auseinandersetzung um die Atomenergienutzung ist mit dem Ausgang der Bundestagswahlen kräftig durcheinandergeschüttelt worden. Im Sommer 1998 war die Atomwirtschaft aufgrund des Kontaminations-Skandals noch mit einer ihrer größten Vertrauenskrisen konfrontiert, die selbst der damaligen Bonner Umweltministerin Angela Merkel keine andere Wahl mehr ließ, als den Stopp der Atomtransporte mit den Konzernen zu vereinbaren. Doch jetzt, paradoxerweise nach der Bildung einer Bundesregierung durch zwei Parteien, die den Atomausstieg im Programm stehen haben (bei der SPD sind es noch immer die zehn Jahre des Nürnberger Nach-Tschernobyl-Parteitages, bei den Grünen steht Sofortausstieg), gewinnt die Branche wieder Oberwasser.

Weil Rot-Grün im Koalitionsvertrag keine Restlaufzeiten für die Reaktoren festgelegt hat, sondern allein mit den Stromkonzernen darüber verhandeln will, wie lange die AKWs noch am Netz bleiben, haben die EVUs ihre Chance erkannt. Schließlich wird erst im Laufe des Jahres 1999 festgelegt, wie es mit der Atomenergie wirklich weitergeht. Die Zeit gilt es zu nutzen. Mit massiven Schadenersatzforderungen und dem Arbeitsplätze-Hammer ziehen sie in die Schlacht.

Ausstieg auf Bonner Art

In den Medien spielt sich die Auseinandersetzung um die Atomenergie nur noch auf der Bonner Bühne ab. Entweder sind die ProtagonistInnen Energiewirtschaft und Bundesregierung oder es geht um das "Duell" zwischen den Ministern Trittin und Müller. Die guten Argumente der Anti-Atom-Bewegung kommen nicht mehr vor. Da wird ein handzahmer Jürgen Trittin zum radikalsten Vorkämpfer der Anti-Atom-Bewegung stilisiert.

Es gilt als radikal, wenn Trittin als Zielbestimmung äußert, daß "in dieser Wahlperiode nicht nur ein Atomkraftwerk abgeschaltet wird". Daß der gleiche Minister nicht versprechen mag, daß es keine Castor-Transporte mehr gibt und daß ihm als einziges Mittel zur Minimierung von solchen Transporten der Bau neuer dezentraler Zwischenlager einfällt, scheint kein Problem. Realpolitik ist angesagt.

Wie reagieren die WählerInnen der Grünen? Wir können einen Effekt beobachten, den es so ähnlich bereits 1990 beim Beginn der rot-grünen Koalition in Niedersachsen gab. Viele, die es eigentlich besser wissen müßten, geben der neuen Regierung einen Vertrauensvorschuß und gehen mit einer "Nun-laß-die-doch-erstmal-machen"-Haltung an die Sache ran. Schließlich wollen sich die Menschen nicht sofort nach der Wahl von ihrer eigenen Wahlentscheidung distanzieren.

Selbst von einigen langjährigen Bewegungs-AktivistInnen bekommt mensch zu hören: "Nun haben wir all die Jahre so wenig erreicht, da geht es mit Rot-Grün bestimmt schneller" Dahinter steckt oft das Bild von den "Mächtigen da oben" und "uns Ohnmächtigen hier unten, die ja doch nichts verändern können."

Die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg bekommt Anfragen, ob sie sich jetzt auflösen würde. Kein Wunder: Es wird ja ständig vom Ausstieg geredet, den die Regierung beschlossen hat. Und auch fürs Auge wird das Thema entsprechend aufbereitet. Unter der Überschrift "Atomkraft: abgehakt" malte die taz einen dicken roten Haken durch ein AKW-Foto. Und in Focus hat sich als Logo für Beiträge über die Atomdebatte in großer Hebel an einem Radioaktivitätszeichen eingebürgert, der auf "Aus" geschaltet ist. Solche Bilder prägen sich ein und stärken den "Inneren Schweinehund", wenn mal wieder ein Demoaufruf ins Haus flattert.

Die Initiativen

aus der Anti-Atom-Bewegung und auch die großen Umweltverbände sind scheinbar die einzigen, die weiterhin deutliche Positionen für den Sofortausstieg in die Debatte bringen. Doch kaum jemand mag sie noch hören. Waren für die JournalistInnen in Zeiten des Castor-Widerstandes die SprecherInnen der örtlichen Initiativen wichtigstes Sprachrohr der Bewegung, so werden jetzt meist nur noch Vorstandsmitglieder oder ParlamentarierInnen der Grünen zitiert.

Die Bewegung hat sich scheinbar auch eine 100-Tage-Schonfrist zugestanden, um sich in der veränderten Situation neu zu orientieren. Größere Aktionen haben nach der Wahl kaum stattgefunden. Allerdings gibt es zur Zeit jedes Wochenende gleich mehrere überregionale Diskussions- und Koordinierungstreffen von Initiativen und Verbänden. Es wird eine Menge Papier produziert und langsam entstehen auch erste Handlungsansätze.

Da damit zu rechnen ist, daß sich viele WählerInnen der Grünen nicht endlos von der Bonner Schaumschlägerei beeindrucken lassen werden, steigen nach einhelliger Einschätzung aus den Initiativen die Chancen, im Laufe des Jahres wieder zu größeren Aktionen mobilisieren zu können. Wichtig ist, genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Enttäuschung einsetzt, mit neuen Handlungsoptionen öffentlich präsent zu sein. Denn nur dann kann die Frustration in Aktion münden. Andernfalls droht ein langanhaltender Rückzug aus dem politischen Geschehen, wenn "noch nicht mal" die grünen HoffnungsträgerInnen was verändern können.

Doch da die Anti-Atom-Bewegung in den letzten Jahren schwerpunktmäßig Anti-Castor-Bewegung war, müssen es die Aktiven erst wieder lernen, wie ohne einen "Tag X" mobilisiert werden kann. Die Ausgangslage im Konflikt um die Atomenergie ist unübersichtlicher geworden. In den letzten Jahren war alles einfacher und die Schwelle zum eigenen Handeln bei vielen gering: Fährt ein Castor, dann stellen sich Tausende quer. Jetzt reicht es nicht mehr zu sagen "Der Castor kommt" und die Massen strömen. Die Bewegung muß wieder gründlicher arbeiten. Strukturen dafür sind erst noch aufzubauen.

Ob es gelingt, aus der in den Medien kolportierten Rolle der "kleinen radikalen Minderheit" herauszukommen, hängt von der Bündnisfähigkeit der Initiativen ab. Dabei gilt es - wie bereits beschrieben - bis weit ins rot-grüne Milieu hinein zu wirken. Umweltverbände, einzelne Gewerkschaften, Kirchen, die Energiewende-Industrie, Jugendverbände und andere soziale Protestbewegungen sind dabei mögliche PartnerInnen.

Wenn die Bewegung in ihren öffentlichen Stellungnahmen die Grünen kritisiert, dann sollte es nicht in erster Linie darum gehen, "Verrat" zu schreien. Das nützt nichts und reißt nur Gräben auf, die von zweifelnden Grünen-AnhängerInnen nur schwer überwunden werden können. Klüger ist es, die Partei und ihre RepräsentantInnen in der Regierung an ihren Ankündigungen zu messen, so daß selbst diejenigen, die Hoffnungen haben, zu der Überzeugung kommen können, daß es nicht schadet, wenn es etwas Druck "von unten" gibt. Die simple, aber zentrale Botschaft: Nur wenn wir selbst handeln, handelt auch die Regierung. Wenn wir uns auf die Regierung verlassen, sind wir verlassen.

Die Politik des breiten Bündnisses stellt, dessen müssen sich alle bewußt sein, einige liebgewonnene Angewohnheiten der Bewegung aus den letzten Jahren in Frage. Verbalradikalismus und Szenejargon auf den Flugblättern dienen zwar der Rückversicherung im eigenen Dunstkreis, wirken aber selten über das Initiativen-Milieu hinaus.

Auch ist es zumindest als offene Frage zu bezeichnen, ob die gut begründete Forderung nach Sofortausstieg zum kleinsten gemeinsamen Nenner gemacht wird, oder ob eine Öffnung hin zu Organisationen stattfindet, die zwar nicht den Sofortausstieg fordern, die aber ein schnelles Ende der Atomenergienutzung wollen und deshalb massive Bedenken gegen die lahme Atompolitik der Bundesregierung haben.

Es geht dabei übrigens in keiner Weise darum, eigene Positionen aufzugeben. Diese sollten sogar lautstark geäußert werden. Aber die Frage bleibt, ob daneben auch weniger radikale Positionen im Bündnis Platz haben oder ob diese Kräfte automatisch dem "Regierungslager" zugerechnet werden.

Die Koalition möchte ein Jahr lang Konsensgespräche führen. Sie bezieht selbst keine Stellung zur Frage, wie lange die AKWs noch laufen sollen. Letztendlich wird es Ende 1999 also von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen in der Atomfrage abhängen, wie das Ergebnis der Konsensgespräche aussehen wird. Rot-Grün wird sein Fähnlein nach dem Wind hängen, der am kräftigsten bläst.

Die Stromkonzerne machen seit dem Regierungswechsel eine Menge Wind. Von der Bewegung ist bisher nichts zu hören. Wenn wir uns einmischen wollen, so ist der Gegner in der Auseinandersetzung nicht die Regierung oder gar die grüne Partei, sondern die Atomindustrie selbst. Das macht es auch einfacher, die RegierungsanhängerInnen mit ins Widerstands-Boot zu nehmen.

Inhaltlicher Schwerpunkt

wird es sein, in die öffentliche Debatte, die sich nur noch um Restlaufzeiten versus Schadenersatzhöhen dreht, wieder grundlegende Argumente gegen die Atomenergienutzung einzubringen. Schließlich wird der Super-GAU auch bei rot-grün ausgehandelten Reaktorbetriebsjahren nicht unwahrscheinlicher und auch das Atommüll-Problem bleibt ungelöst.

Neben dem Aufbau einer starken und aktionsfähigen "Lobby für den Ausstieg" bleibt die Atommüll-Problematik zweites Standbein der Bewegung. Weitere Castor-Transporte sind in den nächsten Monaten möglich. In Ohu und Biblis stehen leere Behälter schon seit dem letzten Sommer zur Beladung bereit. Im Dezember wurden drei leere Castoren in Neckarwestheim und einer in Philippsburg angeliefert. In La Hague warten sechs beladene Behälter auf den Abtransport nach Gorleben.

Der Druck zur Wiederaufnahme der Castor-Transporte ist immens. Immerhin sechs AKWs müßten sonst innerhalb der nächsten 18 Monate vom Netz genommen werden, weil interne Lagerkapazitäten erschöpft sind. Der von Rot-Grün favorisierte Neubau von Zwischenlagerhallen an den Reaktorstandorten dauert selbst ohne Komplikationen zu lange, um alle Engpässe überbrücken zu können. Also bleibt der Bewegung weiter als mögliche Perspektive, einzelne Reaktoren vom Netz zu blockieren.

Der Kampf gegen den Bau von dezentralen Zwischenlagern wird wahrscheinlich ein langwieriger, unspektakulärer aber um so wichtigerer Teilaspekt der Auseinandersetzung werden. Die Betreiber des AKW Lingen waren die ersten, die bereits im November den Bau einer solchen Halle beantragt haben. Die vorgesehene Lagerkapazität ermöglicht 30 weitere Jahre Reaktorbetrieb. Anvisierte Inbetriebnahme ist in drei Jahren.

Die Standortinitiativen vernetzen sich, um den Bau und Betrieb der neuen Castor-Hallen möglichst lange zu verzögern. So kann eine effektive "Zwickmühle" aufgebaut werden: Entweder die Betreiber begeben sich in das Abenteuer einer neuerlichen Castor-Auseinandersetzung, oder sie müssen sich mit uns in Erörterungsterminen, vor Gericht und auf den Zwischenlager-Bauplätzen herumärgern und gehen dabei das Risiko sich frühzeitig erschöpfender Lagerkapazitäten ein.

Das ist zwar nicht die einzige, aber auch nicht die schlechteste Perspektive für eine Bewegung, die ihre Rolle in der neuen politischen Konstellation erst noch finden muß.

Jochen Stay


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