akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 422 / 21.01.1999

Hat die Anti-AKW-Bewegung eine Zukunft?

Autonome in der Anti-AKW-Bewegung

(...) Die Anti-AKW-Bewegung setzt sich ja aus vielen unterschiedlichen politischen Strömungen zusammen. Und es trägt sicher auch zu ihrer Stärke bei, daß wir es immer wieder geschafft haben - trotz der vielen Versuche von außen - uns nicht spalten zu lassen und auch, daß wir es selbst weitgehend eingesehen haben, daß es nicht darauf ankommt, die eigene politische Vorstellung gegenüber anderen durchzusetzen.

Aber wir stellen auch fest, daß unser Verhältnis untereinander ein sehr technisches geworden ist, fast ausschließlich auf das Ziel ausgerichtet immer "mehr" zu werden. Dem liegt die Einschätzung zugrunde, wenn wir "viele" sind, dann sind wir stark.

Das Bedürfnis, uns unsere Vorstellungen gegenseitig zu vermitteln, uns miteinander über die verschiedenen Positionen auseinanderzusetzen - eben weil wir uns ernst nehmen und nur in der gemeinsamen Auseinandersetzung einen Begriff von Emanzipation entwickeln können - dieses Bedürfnis ist einem fast ausschließlich taktischen Umgang untereinander gewichen.

Wenn es uns nicht gelingt, das zu verändern, machen wir uns selbst und andere weitgehend zu StatistInnen von abstrakten Ansprüchen, und damit produzieren wir die herrschenden Verhältnisse in unseren Beziehungen selbst und machen uns für diese integrierbar.

An dieser Stelle will ich kurz einige Hinweise zum Ursprung und zur Entwicklung der Idee von Autonomie in der Anti-AKW-Bewegung einschieben, weil sie eine Antwort war auf eine ähnliche Situation, aber das schon fast vollkommen in Vergessenheit geraten ist.

So etwa 1978, im Rahmen der Auseinandersetzungen um das AKW-Brokdorf gab es folgende Situation: Auf der einen Seite war die örtliche Bevölkerung, auf der anderen die verschiedenen politischen Gruppen aus den Städten, die meist nicht nur nach Brokdorf gingen, um der örtlichen Bevölkerung beizustehen, sondern aus eigenem Anliegen, das über den Kampf gegen Atomtechnologie hinausging.

Einerseits wollten wir den Widerstand mit möglichst allen zusammen entwickeln - und das nicht nur aus taktischen Gründen, sondern auch weil wir neugierig aufeinander waren und die ungeheure Kraft und die Möglichkeit auf eigene und gemeinsame Entwicklung spürten, die darin lag. Andererseits hatten die Aktiven vor Ort mit unseren politischen Vorstellungen nur wenig zu tun und wir auch nicht mit den ihren. Da gab es auch viel Mißtrauen und Distanz zwischen uns.

Aber auch unter den Aktiven in den Städten gab es unterschiedliche Vorstellungen. Da waren auf der einen Seite die K-Gruppen (wie KB, KPD-ML, KPD-AO, KBW), die jeweils mehr oder weniger ihren Führungsanspruch als "kommunistische Avantgarde" durchsetzen wollten und versuchten, der Bewegung ihre Politik und Organisationsvorstellungen ("Demokratischer Zentralismus") überzustülpen und Leute für die eigene Organisation zu rekrutieren.

Und auf der anderen Seite die antiautoritäre, undogmatische Linke, die Spontis. Ein eher politisch diffuses Spektrum, gegen jeden zentralen Organisationsanspruch, kommunistischer, anarchistischer, sozialistischer Ideen nahestehend, meist in kleinen Gruppen organisiert, oft themenbezogen und über meist themenbezogene Plena und Konferenzen vernetzt.

Aber da war auch noch das gewaltfreie Spektrum, die Naturschutzorganisationen und Bürgerinitiativen und viele besorgte Einzelpersonen.

Es standen sich also Strömungen mit sehr unterschiedlichen politischen und organisatorischen Vorstellungen gegenüber. Damit mußten wir umzugehen lernen, wenn uns was an der Stärkung unseres Widerstandes und auch an der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden lag.

Aus dieser Situation heraus entwickelten wir innerhalb der Anti-AKW-Bewegung die Idee der Autonomie. Nicht als Kopfgeburt, sondern weil wir in einer konkreten Situation konkrete Antworten suchten. Und da die Anti-AKW-Bewegung bundesweit vernetzt war und die Konflikte überall ähnlich waren, hatte diese Entwicklung auch schnell Auswirkungen über Brokdorf und den Norden hinaus.

So wie ich das sehe, war der Hauptgedanke: Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten/leben/kämpfen wollen, nicht für eine bestimmte Idee oder Politik zu vereinnahmen (z.B. über Mehrheitsbeschlüsse oder StellvertreterInnenpolitik), sondern sie zu unterstützen, sich eine eigene Position zu erarbeiten, um dann auf der Grundlage einer freiwilligen, selbstbestimmten (indem wir uns ständig damit auseinandersetzten, wieweit unser Denken und Handeln immer auch Ausdruck der herrschenden Verhältnisse ist) gemeinsamen Vereinbarung, die Kämpfe zu entwickeln. Vielleicht etwas allgemeiner: "Selbstbestimmung" und "Kollektivität" als zwei Seiten einer untrennbaren Einheit begreifen.

Begriffe traten in den Vordergrund wie: "Eigenverantwortung", "Kommunikation", "direkte Aktion", "Koordination statt Führung/ politische Leitung", "Selbstorganisation".

Besondere Bedeutung hatte auch die Auseinandersetzung um einen eigenen Begriff von "Widerstand", "Recht" und "Gewalt" und was es praktisch heißt wenn wir sagen: "das Private ist politisch und das Politische ist privat".

Die K-Gruppen konnten sich diesen Vorstellungen nicht öffnen. Ihr starkes taktisches Verhältnis zu den beteiligten Menschen - denke ich - hat dazu beigetragen, daß sie plötzlich politisch so unbedeutend wurden und sich auflösen mußten oder auch, daß sich große Teile der Organisation im Rahmen ihres Auflösungsprozesses - hauptsächlich vom KB und KBW - nahtlos als Grüne in den parlamentarischen Strukturen etablierten.

Die Autonomen haben zu stark auf den militärischen Aspekt des Widerstandes - auf Massenmilitanz - gesetzt und nach den Niederlagen z.B. in Grohnde (19.3.77), in Malville (28.7.77) oder später auch in Cleve (7.6.86), sich entmutigt aus einem gemeinsamen Diskurs zurückgezogen, sich zersplittert und weitgehend auf "Steineschmeißen", "schwarzem Outfit", "revolutionärem Pathos" (als Metapher gemeint) oder auch auf isolierte Einzelaktionen reduziert.

Zur Zeit - denke ich - führen wir kaum einen kollektiven Diskurs über Autonomie-revolutionäre Veränderung-Emanzipation-Macht, von dem nach außerhalb unseres eigenen engen Spektrums Faszination ausgeht und der gesellschaftlich eingreift.

Es täte uns sicher gut, uns wieder stärker an unsere Wurzeln/an unsere Geschichte (1) zu erinnern: Zurückschauen, um zu verstehen, wie die Gegenwart entstanden ist, und um die Zukunft bewußter zu gestalten!

Aus dieser Erfahrung heraus will ich jetzt konkreter auf die Situation der Anti-AKW-Bewegung heute blicken.

Wo steht die Anti-AKW-Bewegung?

Wir - die wir uns als Autonome verstehen - haben uns schon mehrmals in verschiedener Zusammensetzung getroffen, um über die politische Situation zu reden, um neue Ansätze für politisches Eingreifen zu finden und um über gemeinsame gesellschaftliche Perspektiven und Utopien nachzudenken.

Wir sind dabei auch auf Ratlosigkeit, Resignation, Ermüdung und Vereinzelung gestoßen. Das äußert sich oft auch in Aktionismus (Warten auf den nächsten Castor-Transport), in Handwerkelei und verstärkter Bürokratisierung (z.B. bloße technische Vernetzung, Informationsflut) unserer politischen Arbeit. Ordnung und Disziplin als Ersatz für politische Ideen, politische Bewegung, politisches Leben.

Ich will die Situation unseres Widerstandes mit einigen Stichworten beschreiben. Wir haben schon oft darüber gesprochen, so daß ich denke, ihr werdet verstehen was ich damit meine:

Solche Stichworte sind: Feuerwehrpolitik, beständiges Reagieren, Abwehrkämpfe, Verteidigungskämpfe, Ein-Punkt-Bewegung, Anti-Castor-Bewegung, Kampf gegen eine Maschine, Dienstleistungen organisieren, was anbieten, um "viele" zu werden, Konsumveranstaltung, der Presse sensationelle Bilder liefern, Medieninszenierung, Abenteuerurlaub, Events, Happenings, Castor-Parade, Outlaw-Pathos, Mythos Militanz, Konzeptlosigkeit, Geschichtslosigkeit (das Geschichtsbewußtsein reicht kaum länger als drei bis fünf Jahre zurück), Rituale, Mobilisierung ausschließlich über Angst und persönlicher Betroffenheit, über Opferrolle gegenüber Staat und Betreiber,

Der Erfolg wird gemessen an:

- der Anzahl der beteiligten Menschen,

- der Anzahl der eingesetzten PolizistInnen,

- der Medienpräsenz und der Medienberichte. usw, usw.

Die Suche nach gesellschaftliche Perspektiven und Utopien tauchen in unseren Auseinandersetzungen kaum noch auf. Es geht hauptsächlich nur noch um Austausch von Information und um technische Absprachen. Unser Widerstand wird stark von außen, über die Medien, durch das Werben um Massenakzeptanz fremdbestimmt.

Wir bewegen uns immer stärker in vom Staat zugestandenen Räumen. Ich will deshalb auch nicht über die technischen Aspekte unseres Kampfes reden, wie etwa

- über die Gefahren der Atomtechnologie,

- oder über anstehende Aktionen,

- oder über die bessere Organisierung unseres Widerstandes. (...)

Wenn Leute sich über Unverbindlichkeit und Beliebigkeit beklagen, dann wird das nicht über Einfordern von Disziplin und bloßer besserer Organisierung zu verändern sein, sondern nur, indem wir uns über die Ursachen der Mißstände Klarheit verschafften. Denn ohne Verständnis der Situation und ohne glaubwürdige gesellschaftliche Perspektive wird niemand bereit sein, seine bürgerlichen Sicherheiten ernsthaft in Frage zu stellen.

Was haben wir von Rot-Grün zu erwarten?

Unabhängig davon, welche Partei oder welche Koalition gerade an der Macht ist, es wird "kälter" werden in diesem Land. Im Rahmen der herrschenden Verhältnisse - Kapitalismus, Marktwirtschaft, Neoliberalismus, Globalisierung - sind die Spielräume für soziale Verbesserungen enger geworden.

Es geht jetzt hauptsächlich um die Optimierung der ökonomischen Rationalität und um den Aufbau von Machtstrukturen, die diese Entwicklung möglich machen. Genau das, was Schröder und Fischer mit Modernisierung meinen.

Anzeichen dafür sind, wenn der Staat Teil seiner Autorität und sozialen Verantwortung privatisiert.

Z.B.: Schulen, Universitäten, d.h. Ausbildung und Forschung, Post, Telefon, Bahn, Krankenhäuser, Gesundheitsversorgung und Sozialversicherung, Gefängnisse, und auch die Energieversorgung sollen verstärkt privaten Händen übertragen werden und damit noch stärker als bisher jeder Möglichkeit einer demokratischen Kontrolle entzogen werden.

Die Gesamtentwicklung tendiert in eine Richtung, die zur Verschlechterung der sozialen Lebensbedingungen und zu weiteren Anonymisierung von Macht, zur verstärkten gesellschaftlichen Normalisierung und Selektion, zur intensiven Kontrolle und Steuerung aller Lebensbereiche - bis in den Menschen, in alle Lebewesen und auch in die Pflanzen hinein - führt.

Dieser Entwicklung ein "menschliches Antlitz" zu verleihen, den Schrecken zu "humanisieren", das wird die Aufgabe der Grünen sein.

Die Grünen waren ja mal mit dem Anspruch angetreten, Opposition im Apparat zu sein, um die außerparlamentarische Bewegung zu unterstützen. Verstanden sich sozusagen als unser U-Boot in feindlichen Gewässern.

Davon ist schon lange nichts mehr übrig geblieben. Es geht ihnen jetzt ausschließlich um die Macht. Ihr Machtstreben hat sich verselbständigt. Das ist nicht verwunderlich - und wurde auch vorausgesagt -, sondern ist eben das Charakteristikum von Macht überhaupt. Und zu der außerparlamentarischen Bewegung haben sie ein taktisches Verhältnis, für sie sind wir Stimmpotential, eine Marktlücke im Geschäft um die Macht. Einen Teil ihrer Stärke beziehen sie immer noch aus ihrer Fähigkeit, uns in die herrschenden Verhältnisse zu integrieren.

Aber das hat ja zum Glück, zumindest in der Anti-AKW-Bewegung, in letzter Zeit immer schlechter funktioniert - wie ja auch aus den Äußerungen der letzten Anti-AKW-Konferenz in Marburg deutlich wurde:

- an dem eindeutigen und einstimmigen Festhalten an der Forderung nach Sofortausstieg und

- an der erklärten gemeinsamen Absicht, bundesweit zu reagieren, falls die Castor-Transporte wieder aufgenommen werden.

Uns gegenüber versuchen sie ihre Machtgier zu maskieren, indem sie

- von politischer Vernunft,

- Politikfähigkeit,

- Real-Politik,

- Sachzwängen reden,

- unsere Forderungen als unrealistisch, als illusionär abtun.

Und da haben sie sicher nicht so unrecht: Im Rahmen der herrschenden Verhältnisse sind viele unserer Fordrungen unrealistisch, und wir werden sie nur verwirklichen können, wenn wir auch diese Verhältnisse in Frage stellen.

Gerade darin zeigt sich der unvereinbare Widerspruch zwischen uns und den Grünen, und deshalb sollte es uns nicht hauptsächlich darum gehen, politischen Druck auf sie auszuüben, sondern ihnen eine klare Absage zu erteilen.

Wir sollten nicht darüber entrüstet sein, oder darüber klagen, wenn die Grünen nach und nach ihre ehemaligen Vorsätze und Versprechungen verraten haben.

Es sollte uns nicht um die Auseinandersetzung mit den Grünen gehen, sondern mit den Menschen, die immer noch Hoffnungen mit ihnen verbinden - das sind unsere AnsprechpartnerInnen, die sollten wir für unseren Widerstand mobilisieren.

Das wird besonders wichtig in einer Zeit, in der die Grünen ein Ausstiegsgesetz propagieren, und sicher viele Menschen jetzt glauben, die Hände in den Schoß legen zu können, um wieder auf die Parlamente zu vertrauen, um auf den Ausstieg von oben zu warten.

Und das meine ich nicht nur, weil ich den Grünen nicht über den Weg traue, sondern auch:

- weil der radioaktive Müllberg mit jedem Tag Atomenergieproduktion wächst, es keine Lösung gibt und auch nicht denkbar ist, ihn gefahrlos zu beseitigen,

- weil wir unseren Kampf nicht auf den Widerstand gegen Atomtechnologie beschränken, sondern ihn auch gegen die Ursachen, die herrschenden Verhältnisse richten,

- weil wir nicht bereit sind, das Schachern und Pokern der Grünen um der Macht willen auf Kosten von Gesundheit und Leben vieler Menschen mitzutragen.

Deshalb fordern wir nach wie vor: "Sofortige Stillegung aller Atomanlagen weltweit!" (s. Presseerklärung, vgl. ak 419, S.5).

Viele denken jetzt auch, die gesellschaftlichen Bedingungen haben sich zu unseren Gunsten verändert, die Atomtechnologie sei nicht mehr essentieller Baustein des Systems, sei ein Auslaufmodell.

Da wäre ich nicht so sicher, besonders wenn ich das Interesse an atomarer Bewaffnung und am Bau neuer Reaktoren weltweit beobachte.

Unumstritten ist auf jeden Fall, daß die Produktion von Atomenergie und besonders auch der Betrieb der alten Reaktoren ein äußerst profitables Geschäft sind.

Nicht nur gegen das Atom

Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks konnte sich der Kapitalismus scheinbar als einzige gesellschaftliche Alternative weltweit durchsetzen.

Nicht etwa, daß wir den Sozialismus sowjetischer Machart verteidigungswürdig fanden, so hat doch im Schatten der beiden Machtblöcke mancher Versuch und manche Auseinandersetzung um Sozialismus und Revolution stattgefunden.

Jetzt erscheint vielen der Kapitalismus als zwangsläufig und unveränderbar. Das rechte Lager redet vom Ende der Utopie und meint damit, weltweit sei der Endzustand der gesellschaftlichen Entwicklung erreicht.

Der global agierende Kapitalismus gibt sich zur Zeit sehr selbstbewußt, als alternativlos. Darin wird er bestärkt durch das Fehlen von Ideen, Utopien, Gegenentwürfen mit denen Menschen eine humanere und auch realisierbare Zukunft verbinden können.

Meine Erfahrung ist, daß sich durch diese Entwicklung bei vielen Linken Resignation und Hoffnungslosigkeit breit gemacht haben: Keine Hoffnung mehr, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Was dann übrig bleibt ist, das Beste aus der Situation zu machen und sich mit den Verhältnissen zu arrangieren.

Wir haben Abschied nehmen müssen von der Vorstellung vom Absterben des Kapitalismus, daß er zwangsläufig zum Untergang verdammt sei. Das System ist flexibler und integrationsfähiger als viele von uns gedacht haben. Und Revolution wird kein Ereignis sein, in dem ein "revolutionäres Subjekt" den Machtapparat zerschlägt und einen neuen aufbaut und dann die Gesellschaft befreit, sondern ein langwieriger Prozeß in dem wir gleichzeitig die Machtstrukturen in uns und in unseren Beziehungen überwinden müssen.

In diesen Kontext sollten wir auch unseren Kampf gegen die Atomtechnologie stellen! Was bedeutet das? Ein entscheidender Punkt scheint mir zu sein, daß wir unseren Widerstand nicht als eine Spezialfrage, als bloßen Kampf gegen eine bestimmte Technologie/Maschine verstehen. Die Technologie und ihre Anwendung und die Leute die dahinter stecken sind immer auch ein Ausdruck der herrschenden Verhältnisse. D.h. es sollte uns um eine Gesellschaft gehen, in der diese Technologie keinen Platz hat. Also nicht nur um die Beseitigung von "Auswüchsen"/ "Fehlern"/ "Mißständen", vorrangig also auch nicht um die Erzwingung von Zugeständnissen, denn die würden die zugrunde liegenden Verhältnisse nicht verändern. So könnten wir vielleicht die Atomenergie stoppen, aber sonst bliebe alles beim alten.

Das würde ein Anrennen gegen einzelne Erscheinungsbilder bedeuten - immer wieder neu und ohne Ende, und das führt erfahrungsgemäß zur Ermüdung und Resignation, zum Rückzug aus dem Widerstand ins ausschließlich Private. Wobei die oft große Diskrepanz zwischen unseren Ansprüchen und dem, was wir leben, zu einem ähnlichen Effekt geführt hat und führt.

Damit will ich nicht gegen Reformen sprechen, die unsere Lebensbedingungen verbessern. Die gilt es auf jeden Fall zu unterstützen. Aber wir müssen deutlich machen, auch über unsere Praxis, daß zur ursächlichen Veränderung der Erscheinungen, Veränderungen in der Gesellschaft selbst erforderlich sind.

D.h. also den Kampf gegen Atomtechnologie zum Bestandteil unserer Kritik gegen die herrschenden Verhältnisse machen. Und das bedeutet, den Kampf gegen Atomtechnologie mit den Kämpfen gegen Rassismus, Faschismus, Nationalismus, Patriarchat, Sexismus, Geschlechterkategorisierung, Kapitalismus, "Biomacht", gegen gesellschaftliche Normierung und Selektion, gegen Sozialabbau und für Menschenrechte usw. immer als eine Einheit zu sehen. Gerade weil all diese Erscheinungen sich eng durchdringen und sich gegenseitig erst ermöglichen (2). Auch wenn wir uns aus arbeitsökonomischen oder strategischen Gründen oft auf einen Schwerpunkt konzentrieren wollen. Aber dennoch kennen wir sicher alle die Gefahr, dadurch die anderen Bereiche aus den Augen zu verlieren und uns im SpezialistInnentum technisch einzurichten.

Die Beseitigung des Kapitalismus steht immer noch auf der Tagesordnung. Und da gibt es keinen ergebnisoffenen Dialog und kein Frieden mit den herrschenden Verhältnissen.

Verhältnisse, die sich auf Gewalt gründen, können nicht durch "Vernunft" verändert werden. Unser Kampf kann sich nicht auf Einsicht, Erkenntnis, Aufklärung, Überzeugung, Argumente, Appelle beschränken, sondern wir werden auch die politische Macht entwickeln müssen, die Veränderungen selbst herbeizuführen.

Wobei "Macht" in sehr vielen verschiedenen Formen auftreten kann und immer widersprüchlich ist: sich Macht aneignen, um Macht zu bekämpfen. Und das mit der Utopie einer herrschaftsfreien, solidarischen Gesellschaft. Das wird nicht ohne Gewalt gehen! Das ist ein sehr komplexer, dialektischer Vorgang und da sollten wir keiner einfachen Lösung, keinem Rezept, keinem fertigen Modell vertrauen.

Hier - denke ich - muß auch die Auseinandersetzung mit dem gewaltfreien Spektrum der Bewegung ansetzen und wir sollten diese nicht so stark an technischen, organisatorischen und strategischen Fragen festmachen.

Ich habe ja meinen Beitrag mit der Frage begonnen: Hat die Anti-AKW-Bewegung eine Zukunft?

Meine Antwort ist: Nicht automatisch, sondern nur dann, wenn wir ihr selbst eine Zukunft geben, die über den Kampf gegen eine Maschine und über die Angst vor radioaktiver Strahlung hinausgeht und wenn wir diesen Kampf in den Kontext der Utopie einer humanen Gesellschaft stellen. Was das im einzelnen konkret heißt müssen wir ständig gemeinsam herausbekommen.

Fritz Storim

Anmerkungen:

1) hierzu ausführlicher: "Bilanz und Perspektiven zum Widerstand gegen Atomanlagen - 1996." In gekürzter Fassung erschienen in: "... und auch nicht anderswo! Die Geschichte der Anti-AKW-Bewegung", Verlag die Werkstatt, Göttingen, 1997.
2) Das wird z.B. sichtbar an der Auseinandersetzung gegen die Blut- und Boden-IdeologInnen, denen es um "die Bewahrung der Schöpfung", den "Erhalt des deutschen Erbgutes" und der "deutschen Heimat" geht, oder gegen die Werbung für den Widerstand mit Fotos, von durch radioaktiver Strahlung verletzter Kinder, oder gegen die Zunahme der Selektion von Föten nach Tschernobyl, oder gegen die Vergewaltigung beim letzten CASTOR-Transport im Wendland, oder gegen die neofaschistischen Angriffe gegen den Widerstand in Rheinsberg.


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