akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 421 / 17.12.1998

Siemens-Boykott: Es geht voran!

Mit dem Boykott gegen Siemens hat die Anti-Atom-Bewegung ins Schwarze getroffen. Auf Zehntausenden von Flugblättern und Postkarten wurde die Bevölkerung über die gefährlichen Atomgeschäfte von Siemens informiert und zum Boykott von Siemens-Produkten aufgefordert, damit der Konzern endlich aus dem Atomgeschäft aussteigt.

Der Koordinationskreis Siemens-Boykott und die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW haben in den vergangenen Jahren maßgeblich zu einer intensiven Medienberichterstattung über die Atomgeschäfte von Siemens beigetragen. Mit der "Schäfchen-Aktion" in diesem Frühjahr in Hamburg erfuhr die Bevölkerung sogar in der Tagesschau, welcher Konzern die Atomenergie in Deutschland weiter vorantreibt.

Auch unmittelbar vor der Bundestagswahl riß das Medieninteresse an dem geplanten Siemens-Reaktor in der Türkei nicht ab. Zu unverständlich ist das Bestreben von Siemens, einen nicht ausreichend gegen Erdbeben ausgelegten Atomreaktor an die Türkei zu liefern, die zudem nach den Atombombentests in Indien und Pakistan anfängt, über ein eigenes Atomwaffenprogramm zu diskutieren.

Und nicht nur Organisatoren, Aktive und Unterstützer der Kampagne reden vom Siemens-Boykott:

- Ein Düsseldorfer Professor der Betriebswirtschaft gab seinen Studierenden anhand des Siemens-Boykotts die Empfehlung, die Produktpalette von Unternehmen solle so aussehen, daß sie gesellschaftlich akzeptiert werde. Hintergrund dieser erstaunlich vorsichtigen Empfehlungen der Betriebswirtschaftler ist eine Analyse der Unternehmensberatungsgesellschaft Roland Berger, einer Tochter der Deutschen Bank, die den erfolgreichen Boykott gegen Shell analysierte und empfahl, Unternehmen sollten im äußersten Fall auf Produkte oder Geschäftsfelder verzichten, wenn sie das Ansehen des Unternehmens nachhaltig beeinträchtigen können.

- In einem Kommentar in Publik Forum, einer Zeitschrift für kritische Christen, wurde kürzlich gefragt, warum es den Siemens-Boykott gebe, aber keinen Boykott gegen die Großbanken.

- In der Fachzeitschrift ÄP Neurologie Psychiatrie rief der Chefredakteur im Editorial am Beispiel des Siemens-Boykotts zu einer glaubwürdigen Prävention gegen Gesundheitsgefahren auf.

- In der Süddeutschen Zeitung war vor einiger Zeit zu lesen, daß Bündnis 90/Die Grünen in Passau die Zufahrtsstraße zur örtlichen Siemens-Niederlassung in "Siemens-Boykott-Allee" umgetauft haben.

Die Folge: Siemens hat erhebliche Image-Probleme. Im vergangenen Herbst wurde Siemens-Chef Heinrich von Pierer im Spiegel mit der Bemerkung wiedergegeben, das Nukleargeschäft mache noch 2% des Siemens-Umsatzes aus, verursache aber 90% des Ärgers.

Und: In diesem Sommer soll von Pierer vor führenden Belegschaftsvertretern in Berlin gesagt haben, der Konzern investiere in alle Unternehmensbereiche, nur nicht in solche, denen die gesellschaftliche Akzeptanz verlorengegangen sei.

Das zeigt: Die negative Berichterstattung über die Atomgeschäfte und der Aufruf zum Siemens-Boykott verursachen eine Menge "Ärger", sprich Image-Probleme. Es gibt sogar eindeutige Hinweise dafür, daß es der Boykott-Aufruf ist, der in der Siemens-Führung für Unruhe sorgt.

Nach Informationen der internationalen Zeitschrift der Atomindustrie Nucleonics Week vom 14.9.1995 rechnete Siemens seine Umsatzverluste in der Schweiz im Bereich Medizintechnik zu 50 Prozent dem Boykott der IPPNW zu. Zudem befürchtete die Siemens-Führung, die damals geplante Verarbeitung russischen Waffenplutoniums in Hanau könne einen noch breiteren Verbraucherboykott von Siemens-Produkten auslösen. Das Vorhaben wurde aufgegeben.

Bemerkenswert sind die Reaktionen von Siemens auf Boykott-Aufrufe. Insbesondere dann, wenn auch "bürgerliche" Kreise zum Boykott aufrufen. Eine von 33 PfarrerInnen getragene Boykott-Anzeige im Gießener und Marburger Stadtmagazin führte sofort dazu, daß die Konzernleitung von Siemens um ein Gespräch mit der Kirchenleitung ersuchte.

Der Aufruf zum Boykott ist für die Bevölkerung ein wichtiges Signal, daß man die hohen Herren in den Führungsetagen von Unternehmen nicht nur brav und mit einem erfurchtsvollen Blick nach oben kritisiert. Vielmehr wird offen und angesichts des Bewußtseins der eigenen Stärke gleichzeitig sehr nüchtern zum Widerstand gegen eine ethisch nicht vertretbare Unternehmenspolitik aufgerufen. Da die Form des Widerstands so ist, daß sie sowohl von Castor-Gruppen u.a. als auch von "bürgerlichen" Kreisen mitgetragen wird, gestaltet sich der Boykott insgesamt als brisante Gemengelage für Siemens. Diesen Erfolgsfaktor des Siemens-Boykotts sollte man nicht unterschätzen.

Der Siemens-Boykott ist auch gesellschaftstheoretisch ein geeigneter Weg zum Atomausstieg. Denn er legt zugrunde, daß ein Großteil der "politischen" Entscheidungen in den Konzernzentralen und eben nicht von den Repräsentanten der Politik getroffen werden. Viele Formen der politischen Opposition arbeiten sich an den politischen Repräsentanten ab, die sich in dieser Gesellschaft aber für viele Entscheidungen nur als Sündenböcke zur Verfügung stellen und auf die die Gesellschaft ungestraft einschlagen darf (vgl. Jänicke, Staatsversagen). Der Siemens-Boykott setzt hingegen an der Stelle an, wo die atompolitischen Entscheidungen ganz maßgeblich getroffen werden: in Vorstand und Aufsichtsrat des Siemens-Konzerns.

Entsprechend gründlich wird die Kampagne bei Siemens analysiert und "begleitet". Ein Gespräch und der Briefwechsel zwischen der IPPNW und Siemens zeigten: Der Siemens-Boykott ist Chefsache. Zunächst kommunizierte der (ehemalige) Aufsichtsratsvorsitzende Hermann Franz mit der alternativen Ärzteorganisation. Inzwischen hat Siemens-Chef Heinrich von Pierer die Kommunikation zum Siemens-Boykott übernommen. Daneben "betreut" der Leiter der Zentralabteilung Wirtschaftspolitik, Bernd Stecher, den Siemens-Boykott.

Im Juli diesen Jahres informierte die IPPNW nicht nur Siemens-Chef von Pierer über die Risiken eines Atomkraftwerk-Exports in die Türkei. Das Schreiben wurde in Kopie insgesamt 100 Führungskräften des Konzerns zugestellt. Denn: Nicht wenige Führungskräfte aus anderen Geschäftsbereichen bei Siemens (Hausgeräte, Beleuchtung etc.) dürften es sehr gerne sehen, wenn die Image-Schäden, die durch die Atomgeschäfte der Atomabteilung KWU verursacht werden, ein Ende fänden. In der Antwort von Siemens wurde daraufhin angeregt, erneut ein Gespräch zu führen. Offenbar ist der Siemens-Spitze ein Dialog über die Atomgeschäfte in kleinem Kreise lieber als eine breite Einbindung des Siemens-Managements in die Diskussion um die atomare Gefahr.

Halten wir fest: Die allgemeinen Akzeptanzprobleme der Atomenergie, die Image-Probleme von Siemens als führendem Atomkonzern und der Boykott-Aufruf führen dazu, daß in den Führungsgremien von Siemens offenbar über die nukleare Zukunft nachgedacht wird. Von viel Ärger ist die Rede.

Von einem Ausstieg aus dem Atomgeschäft kann aber derzeit keineswegs die Rede sein. Der Unternehmensbereich Energieerzeugung (KWU) powert mit Rückendeckung der Unternehmensspitze unverdrossen weiter für jedes auch noch so gefährliche Atomgeschäft.

Aber die Geschäftszahlen stimmen nicht mehr. Die KWU gehört inzwischen zu einem der Problembereiche im Siemens-Konzern. Weltweit stagnieren die Aufträge für Atomanlagen, die Umsätze sind sogar rückläufig. Versuche von Siemens, dennoch durch Fusionen im Atombereich zu expandieren, gestalten sich schwierig: Die geplante Übernahme des Atomgeschäfts vom führenden US-Hersteller Westinghouse scheiterte, die Verhandlungen mit der britischen BNFL über die Bildung eines gemeinsamen Atomkonzerns kommen offenbar nicht voran, und das Verhältnis zur französischen Partnerin Framatome ist nicht frei von Belastungen.

Betriebswirtschaftlich bietet der Atombereich also überhaupt keine interessante Perspektive für den global expandierenden Elektromulti. Der Gesamtkonzern konzentriert sich derzeit mit aller Kraft auf den Ausbau der Bereiche Information (Computertechnik) und Kommunikation (I&K). Problembereiche stehen hingegen unter Druck. Auch wenn es natürlich nicht die Sorge der Siemens-Boykott-Kampagne ist, ob Siemens ohne Atomgeschäfte möglicherweise höhere Umsatzzuwächse erzielt, läßt sich nüchtern festhalten: Die schlechte Auftragslage auf dem Markt für Atomgeschäfte erhöht die Erfolgsaussichten des Siemens-Boykotts beträchtlich.

Der Siemens-Boykott ist derzeit die einzig sinnvolle Antwort auf die Gefahr, die von der zunehmenden Europäisierung der Energiewirtschaft ausgeht! Siemens rüstet in Osteuropa Atomkraftwerke nach, beteiligt sich an der Fertigstellung von Atomkraftwerken, entwickelt und baut Prototypen von neuen Reaktortypen für den Osten. Diese Atomgeschäfte werden von westlichen Banken mitfinanziert. Für die Rückzahlung der Kredite müssen die mittel- und osteuropäischen Länder Devisen erwirtschaften, was praktisch nur durch Atomstromlieferungen in den Westen möglich ist. Zu diesem Zweck baut Siemens auch gleich die nötigen Stromtrassen. (vgl. ak 419)

Gegen die mit erschreckend hohen Sicherheitsrisiken verbundenen nuklearen Ostgeschäfte von Siemens helfen aber Demonstrationen, Proteste und Castor-Widerstand in Deutschland recht wenig. Und wie sich gerade zeigt, hat auch eine rot-grüne Bundesregierung wenig Mumm, Siemens beim Atomexport ernsthaft Knüppel zwischen die Füße zu werfen. Der Siemens-Boykott entfaltet hingegen seine Wirkung gegen die Atomgeschäfte von Siemens insgesamt. Egal wo zum Boykott aufgerufen wird, gerät die Atompolitik von Siemens unter Druck.

Inzwischen formiert sich europaweit Widerstand gegen die geplante Fertigstellung der beiden ukrainischen Atomkraftwerke Khmelnitzki-2 und Rowno-4 durch Siemens. Je stärker Siemens in Osteuropa engagiert ist, desto stärker richtet sich der Protest auch direkt gegen Siemens.

1995 organisierte die österreichische Umweltschutzorganisation Global 2000 eine Kampagne gegen die Fertigstellung des slowakischen Atomkraftwerks Mochovce, in deren Rahmen 1,2 der 7 Millionen Österreicher sich schriftlich gegen das Atomgeschäft von Siemens wandten. 1996 und 1997 riefen anläßlich von Mochovce europaweit in zahlreichen Ländern Umweltschutzorganisationen zum Siemens-Boykott auf. Auch die große britische Friedensinitiative Campaign for Nuclear Disarmament (CND) rief ihre Mitglieder landesweit auf, keine Produkte von Siemens mehr zu kaufen.

Am 27. März 1997 blockierten in Moskau Mitglieder der "Socio-Ecological Union" und der "Rainbow Keepers" die dortige Siemens-Niederlassung. Mit Handschellen ketteten sie sich an den Eingang, riefen zum Siemens-Boykott auf und warnten auf Transparenten: "No more reactors".

Zum Weihnachtsgeschäft 1997 organisierte die bedeutende osteuropäische Umweltschutzorganisation "Exodefense" gemeinsam mit zahlreichen weiteren Gruppen in Kaliningrad eine Boykott-Kampagne gegen Siemens, in deren Rahmen Tausende von Flugblättern verteilt wurden. Die Aktionen richten sich insbesondere gegen die Fertigstellung von WWER-1000-Anlagen und gegen den Neubau eines WWER-640 in Sosnovy Bor bei St. Petersburg.

Der Boykott gegen Siemens eint zunehmend die europäische Anti-Atom-Bewegung. Egal ob in Deutschland, in der Ukraine, in Rußland, in Großbritannien oder in der Türkei zum Siemens-Boykott aufgerufen wird, der ständige Ärger stört doch erheblich das Geschäft. Und je länger die Boykott-Kampagne dauert, desto mehr Menschen sind nachhaltig befremdet über diesen Konzern, der das schmutzige Atomgeschäft noch immer aus reinen Profitinteressen betreibt und dabei - wie sich in Osteuropa zeigt - des Geschäfts wegen immer fahrlässiger mit Sicherheitsrisiken umgeht.

Henrik Paulitz

Der Autor organisiert für die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW und in Zusammenarbeit mit dem Koordinationskreis Siemens-Boykott die Siemens-Boykott-Kampagne.


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