akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 420 / 19.11.1998

"Umfasssend und unumkehrbar"

Erste Analyse der Eckpunkte rot-grüner Atompolitik

"Der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie wird innerhalb dieser Legislaturperiode umfassend und unumkehrbar gesetzlich geregelt." Mit diesem Satz beginnt der Abschnitt über die Atompolitik im Koalitionsvertrag der neuen rot-grünen Bundesregierung. Damit formulierten die energiepolitischen Unterhändler von SPD und Bündnisgrünen (Gerhard Schröder, Werner Müller, Jürgen Trittin und Rainer Baake) eine Zielbestimmung, die bei den AtomkraftgegnerInnen in der Bundesrepublik zwiespältige Gefühle erzeugt. Nicht wenige Menschen hoffen, daß es einen wirklichen "Politikwechsel" in Sachen Atom gibt. Doch leider haben sich viele die Vereinbarung zwischen SPD und Grünen nicht genauer angesehen. Denn diese gibt zu Hoffnungen wenig Anlaß.

Am Anfang steht also der Koalitionsvertrag: Zur Umsetzung des Ausstiegs-Ziels wurden drei Schritte vereinbart. Zuerst soll innerhalb von 100 Tagen das Atomgesetz geändert werden. Dabei wird der bisher festgeschriebene Förderzweck für die Atomenergienutzung gestrichen. Innerhalb eines Jahres werden von den AKW-Betreibern Sicherheitsüberprüfungen ihrer Anlagen verlangt. Die Entsorgung von Atommüll soll auf den Weg der direkten Endlagerung beschränkt werden. Die letzte Merkelsche Atomgesetzänderung wird wieder aufgehoben und schließlich soll die Deckungsvorsorge für einen Katastrophenfall erhöht werden.

Als nächsten Schritt will die Bundesregierung die Stromkonzerne zu neuen Atomkonsensgesprächen einladen. Innerhalb eines Jahres wird versucht, eine Einigung über Restlaufzeiten und Entsorgungsfragen zu erzielen.

Nach Ablauf der Jahresfrist soll es schließlich ein Gesetz geben, mit dem die Betriebsgenehmigungen der Reaktoren zeitlich befristet werden, entweder in dem bei den Konsensgesprächen vereinbarten Maße oder - wenn es zu keiner Einigung kommt - allein von der Regierung festgelegt.

Schließlich beinhaltet das Koalitionspapier noch Aussagen zur Atommüll-Problematik. SPD und Grüne sind sich einig, so schreiben sie, "daß das bisherige Entsorgungskonzept für die radioaktiven Abfälle inhaltlich gescheitert ist und keine sachliche Grundlage mehr hat." Deshalb soll ein nationaler Entsorgungsplan für die Erblast der radioaktiven Abfälle erarbeitet werden. Dabei soll es nur noch ein einziges Endlager geben. Morsleben wird nicht weiter genutzt. Bei der Erkundung des Salzstocks in Gorleben wird ein Moratorium angestrebt, während weitere Standorte in unterschiedlichen Wirtsgesteinen auf ihre Eignung untersucht werden. Danach wird eine Entscheidung angestrebt, wobei bis 2030 ein Endlager zur Verfügung stehen soll.

An jedem AKW-Standort oder "in der Nähe" sollen die Betreiber neue Zwischenlager für hochaktiven Müll bauen. Castor-Transporte sind - so lange die Halle am AKW nicht fertiggestellt ist - ausdrücklich weiter vorgesehen.

Soweit, relativ wertfrei referiert, die Vereinbarungen zur zukünftigen Atompolitik. Um einschätzen zu können, wie brauchbar diese Politik ist, um den Ausstieg tatsächlich zu erreichen, und dies auch noch "unumkehrbar", ist es notwendig, zwischen den Zeilen zu lesen und einige der Abmachungen zu erläutern.

Als wäre nix gewesen

Im Koalitionsvertrag wurden keine Restlaufzeiten für die AKWs vereinbart. Zitat Jürgen Trittin: "Was hätte es uns genützt, wenn wir eine Ausstiegsfrist vereinbart hätten, und wir hätten sie später aus rechtlichen Gründen wieder ändern müssen?" War da was? Noch im Wahlkampf hatten Trittin und alle anderen grünen AtompolitikerInnen voll und ganz auf das Konzept des damaligen hessischen Staatssekretärs Rainer Baake gesetzt: Mit einem Ausstiegsgesetz sollte es möglich sein, die Betriebsgenehmigung der AKWs so zu befristen, daß fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes der letzte Reaktor vom Netz geht. Selbst vor dem Verfassungsgericht, so waren sich die Grünen sicher, würde diese Regelung Bestand haben.

Jetzt sollen die Fristen gemeinsam mit der Atomwirtschaft festgelegt werden. Und diese Verhandlungen werden von Regierungsseite maßgeblich durch den ehemaligen Atommanager Werner Müller geführt, der nach jahrelanger energiepolitischer Beratertätigkeit bei Gerhard Schröder nun zum Bundeswirtschaftsminister aufgestiegen ist. Bei den ersten Atomkonsensgesprächen 1993 saß er noch als Vertreter der Stromkonzerne mit am Tisch. In ersten Interviews nach seiner Ernennung zum Minister machte Müller keinen Hehl daraus, daß er persönlich die weitere Nutzung der Atomenergie befürwortet. Ein würdiger Vertreter der schröderschen Atompolitik also. Schließlich setzt sich der Kanzler für Restlaufzeiten von bis zu 30 Jahren ein.

Durch das Offenhalten der Ausstiegsfristen wurde der Atomkonflikt zwischen SPD und Grünen letztendlich nur um ein Jahr verschoben. Und damit ist die Frage im Prinzip an die Gesellschaft zurückgegeben worden. Alle Lager im Streit um die Atomenergie haben nun zwölf Monate Zeit, um Machtpositionen zu gewinnen oder auszubauen. Ende 1999 wird dann die Entscheidung fallen, wie es wirklich weitergeht. Die Stromkonzerne haben diese Situation bereits erkannt und machen massiven Druck über die Androhung von Verfassungsklagen und Schadenersatzforderungen.

Noch völlig offen ist, ob die SPD-regierten Bundesländer in diesem Jahr einen zugespitzten ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug fahren werden, ob sie die geplanten Verschärfungen der atomrechtlichen Rahmenbedingungen zu einer restriktiveren Politik gegenüber den AKW-Betreibern nutzen oder ob sie sich brav zurückhalten, um die Stromkonzerne nicht vor oder während der Konsensgespräche vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Besonders spannend wird diese Frage z.B. beim AKW Biblis A, dessen sofortige Stillegung nach Regierungsbeteiligung im Bund durch das hessische Umweltministerium ein zentrales Wahlversprechen der Grünen war (siehe Artikel in dieser ak-Ausgabe). Inzwischen mehren sich allerdings die Stimmen aus der SPD, die sich dafür stark machen, daß die grüne Ministerin Priska Hintz mit der Stillegungsverfügung noch wartet, bis die Konsensgespräche abgeschlossen sind. Bundesreaktorminister Trittin und sein aus Wiesbaden nach Bonn gewechselter und mit der Biblis-Materie bestens vertrauter Staatssekretär Baake hüllen sich bisher in Schweigen.

Auch in Niedersachsen gilt es für den SPD-Umweltminister Wolfgang Jüttner Farbe zu bekennen. Wird er ein zusätzliches Brennelemente-Lagergestell für das AKW Stade genehmigen oder muß das AKW wegen fehlender Lagerkapazitäten vom Netz genommen werden? (siehe dazu ak 419) Und bekommt die umstrittene Pilotkonditionierungsanlage (PKA) Gorleben im Frühjahr 1999 ihre Betriebsgenehmigung oder kündigt das Land den mit den Betreibern eingegangenen Knebelvertrag?

Wie geht es überhaupt mit der Atommüll-Politik weiter? Als naiv und bar jedes realpolitischen Verständnisses hat wahrscheinlich die Frage zu gelten, wieso eigentlich nicht alle AKWs wegen fehlendem Entsorgungsvorsorgenachweis sofort stillgelegt werden müssen, wenn die neue Bundesregierung das bisherige Entsorgungskonzept für Atommüll als inhaltlich gescheitert und ohne sachliche Grundlage sieht.

Bald rot-grüne Castor-Transporte?

Auch ein neues Konzept ist bisher nicht absehbar. Zwar ist vom Beschränken der Entsorgung auf die direkte Endlagerung die Rede, doch lassen die Bonner KoalitionärInnen offen, was aus den bereits geschlossenen Verträgen mit den Wiederaufarbeitungsanlagen (WAA) in La Hague und Sellafield wird. Aus Frankreich wird bereits Druck aufgebaut. Sowohl Betreiber als auch die dortige grüne Regierungspartei drohen mit schnellem Rücktransport großer Mengen bundesdeutscher Strahlenabfälle, die bisher bei der WAA La Hague lagern, falls die Verträge gekündigt werden.

Selbst wenn nur die sogenannten "Altverträge" erfüllt würden, die vor 1990 abgeschlossen wurden, müßten dafür mehrere Dutzend weitere Castor-Transporte von deutschen AKWs nach Frankreich rollen. Ein äußerst brisanter Konflikt bahnt sich also an, bei dem sich die neue Bundesregierung, wenn sie die Aufrechterhaltung des Transportestopps nicht durchhält, zwischen Castor-Zügen nach oder aus Frankreich entscheiden muß.

Das Bergwerk im Salzstock Gorleben wird nur deshalb nicht zugeschüttet, damit die AKW-Betreiber wenigstens eine minimale Legitimation für weitere Atommüll-Produktion vorweisen können.

Hatten Schröder, Trittin und alle anderen rot-grünen AtompolitikerInnen all die Jahre am Salzstock Gorleben kein gutes Haar gelassen und waren gemeinsam mit den meisten WissenschaftlerInnen in der Überzeugung einig, daß dort auf keinen Fall strahlende Abfälle eingelagert werden dürfen, so ist jetzt nur noch davon die Rede, daß an der Eignung des Salzstockes "Zweifel bestehen".

Die Option auf ein unterirdisches Atommüll-Lager wird durch das geplante Moratorium auf Jahrzehnte festgeschrieben und gleichzeitig soll an anderen Stellen nach weiteren Standorten gesucht werden. Mit dem Vertagen der Entscheidung auf das Jahr 2030 wird der Bevölkerung suggeriert, es könne irgendwann doch einmal ein sicheres Endlager gefunden werden. Der Entsorgungsvorsorgenachweis bleibt damit erfüllt. Der Atommüllberg darf munter weiter wachsen und es entsteht der falsche Einruck, als wären für alle Probleme um die radioaktiven Abfälle Lösungen vorhanden.

Den Joker hat die Atomindustrie allerdings mit dem rot-grünen Beschluß zum Bau neuer Zwischenlagerhallen an den Reaktorstandorten gezogen. Waren die Betreiber durch den Widerstand gegen die Castor-Transporte in den letzten Jahren schon arg gebeutelt, so hat sie der Transportestopp nach Bekanntwerden des Kontaminations-Skandals im Sommer 1998 in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. Die von der Anti-AKW-Bewegung bereits seit Jahrzehnten verfolgte Strategie, sämtliche nur dem Weiterbetrieb der AKWs dienenden sogenannten Entsorgungswege zu bekämpfen, schien endlich aufgegangen zu sein. Jetzt schafft die neue Regierung den Stromkonzernen einen bequemen Ausweg, der auch noch deutlich billiger als die bisher bevorzugte Wiederaufarbeitung kommt.

Begründet wird der Koalitionsbeschluß, vor der Stillegung von Atomanlagen erst einmal einige Zwischenlager neu zu errichten, mit der Verantwortung, sich als Regierung konstruktiv um die Atommüll-Lagerung kümmern zu müssen, und mit dem Wunsch, die Zahl der Castor-Transporte zu verringern. Übersehen wird dabei, daß das wichtigste Argument zum Widerstand gegen Castor nie nur die Gefahren der Transporte waren. Der Protest richtete sich immer auch dagegen, mit dem Kutschieren von hochradioaktiven Stoffen quer durch die Republik den Anschein zu erwecken, das Atommüll-Problem sei unter Kontrolle.

Eben diesen Effekt hätten neue Hallen an den AKWs auch: Es ist die beliebte "Aus den Augen aus dem Sinn Politik". Nur diesmal für die Betreiber aufgrund des schwerer zu organisierenden Widerstandes ungleich komfortabler als bei der bisherigen Transporte-Lösung.
Das Lieblingswort des neuen Atomministers Jürgen Trittin in diesen Wochen ist "unumkehrbar". Der Terminus wird verwendet, um zu belegen, daß die angebliche Ausstiegspolitik über einen erneuten Regierungswechsel nach den nächsten Wahlen hinaus abgesichert ist. Allerdings wird an keiner Stelle des Koalitionsvertrages deutlich, wie das funktionieren soll.
Stellen wir uns ein Szenario in vier Jahren vor: Mit viel Glück ist es der rot-grünen Regierung gelungen, die AKW-Betreiber zum Abschalten einiger veralteter Schrottreaktoren zu überreden, deren notwendige Nachrüstung sowieso unwirtschaftlich gewesen wäre. Für alle anderen Atommeiler sind lange Restlaufzeiten gesetzlich garantiert. An den meisten Reaktorstandorten gibt es neue Zwischenlagerhallen. Im Bergwerk für das Endlager Gorleben sind die bereits erschlossenen Bereiche unter Tage standsicher ausgebaut.
Wenn nach der nächsten Wahl die Mehrheiten wieder wechseln, so könnte eine dann neue Regierung die Befristung der AKW-Betriebsgenehmigungen ohne Probleme wieder aufheben und würde für den Atommüll komfortable Zwischenlösungen vorfinden, die das Thema aus der öffentlichen Auseinandersetzung halten. Unumkehrbarer Ausstieg? Es scheinen eher Ängste begründet, daß die rot-grüne Atompolitik der Nuklearbranche eine konfliktärmere Zukunft eröffnen könnte.
Jürgen Trittin hat erkannt, wo einer der Knackpunkte in der nächsten Zeit liegt: "Die Glaubwürdigkeit dieser Regierung wird nicht von einzelnen Atomtransporten abhängen", so der Minister, "sondern davon, ob es uns gelingt klarzumachen, daß neue Zwischenlager nicht dem unbefristeten Weiterbetrieb dienen, sondern ein Schritt zum Atomausstieg sind."
Doch weder AKWs noch Castorbehälter noch Zwischenlager werden sicherer, wenn die neue Regierung lediglich Ausstiegs-Rhetorik betreibt. Und wenn Trittin gesteht, daß er auch auf dem Ministersessel von Töpfer und Merkel keine Transporte verhindern kann ("Niemand kann versprechen, daß es keine weiteren Atomtransporte gibt"), dann muß die Bewegung ihm und seinen WählerInnen verraten, daß so etwas schon immer besser im praktischen Widerstand zu erreichen war.
Anlaß dazu gibt es unter Umständen bereits im nächsten Jahr. So läßt die Koalitionsvereinbarung ja ausdrücklich Castor-Transporte nach Gorleben und Ahaus zu, falls es am Kraftwerk keine ausreichende Zwischenlagerkapazität gibt. Auch weitere Atommüll-Fuhren zu den WAAs im Ausland scheinen möglich, wenn die Altverträge noch erfüllt werden sollen. Und in La Hague stehen sechs mit hochradioaktivem WAA-Müll beladene Behälter zur Abfahrt nach Gorleben bereit.

Jochen Stay


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