ak 420: Der Anfang vom Ende?

akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 420 / 19.11.1998

WAA Sellafield:

Der Anfang vom Ende?

Sellafield liegt am Rande des Nationalparks Lake District in Cumbria, einer der schönsten Gegenden Englands. Die Grenze dieser Region ist heute jedoch auch eine Wohlstandsgrenze. Die Westküste von Cumbria war einmal eine industrielle Region, Kohlenbergwerke und Stahlindustrie sorgten für Einkommen und Jobs der Anwohner. Heute sind diese Industrien fast alle verschwunden - geblieben ist einzig die Atomindustrie. Fast alles was im Atombereich gemacht werden kann, findet heute im Atomkomplex Sellafield statt.

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs hat man 1946 die ersten zwei Atomreaktoren mit zwei großen Kühltürmen unter dem Namen Windscale gebaut, um hier das Plutonium für die Atombombe herzustellen. Erst zehn Jahre später hat Königin Elisabeth II das erste kommerzielle Kernkraftwerk (Calder Hall) mit vier Reaktoren eröffnet. 1957 kam es in einem Teil von Windscale zu einem schweren Atomunfall, einem Brand im Reaktorkern. 500 Quadratkilometer wurden mit Jod 131 verseucht, zwei Millionen Liter Milch von den Bauernhöfen im Nordwesten von England mußten vernichtet werden und die beiden Türme wurden endgültig geschlossen.

Doch trotz dieses schweren Unfalls hat sich die Anlage bis heute erheblich vergrößert und sich über mehr als vier Quadratkilometer ausgebreitet. Es gibt u.a. ein Plutoniumlager, eine ganze Menge Hallen für Atommüll, Wassertanks, in denen die abgebrannten Brennstäbe gelagert werden, eine Verglasungsanlage, in der der hochradioaktive flüssige Müll in Glas verpackt wird, viele Behandlungsanlagen und eine Pipeline, durch die täglich neun Millionen Liter radioaktives Abwasser in die Irische See abgeleitet werden. Die Irische See ist heute das radioaktiv verseuchteste Meer der Welt.

All diese Einrichtungen sind in den vergangenen Jahrzehnten um die alte Wiederaufarbeitungsanlage für Magnoxbrennstäbe - B205, den Reaktoren der ersten Generation, errichtet worden. Heute ist das Herzstück die WAA für die Brennelemente aus den Leichtwasserreaktoren, die sogenannte THORP-Anlage.

Abgebrannte Brennelemente kommen aus Japan, Deutschland, der Schweiz, den Ländern, die die wichtigsten ausländischen Kunden sind, und auch aus den Kernkraftwerken in Britannien. In der THORP-Anlage werden die Brennelemente zerkleinert und das in ihnen enthaltene Plutonium und spaltbare Uran chemisch getrennt. Am Ende dieses Prozesses stehen eine Vielzahl teilweise hochradioaktiver Abfallprodukte.

Zum Standort Sellafield gehört seit einigen Jahren auch eine neue Anlage zur Herstellung von sogenannten MOX-Brennelementen. Bis heute ist sie allerdings nicht abschließend genehmigt - seit über einem Jahr warten die Betreiber auf die Entscheidung des Umweltamts (Environment Agency) bzw. der Regierung. MOX-Brennelemente bestehen aus einer Mischung von Uran und Plutonium, das aus der Wiederaufarbeitung stammt. BNFL (British Nuclear Fuels Limited, Besitzerin von Sellafield) will diesen Brennstoff künftig ebenfalls herstellen und verkaufen. Bei BNFL spricht man in Sachen MOX-Fertigung auch von "recycling" oder stellt die Plutoniumverarbeitung unter das Motto: "Schwerter zu Pflugscharen". Hintergrund ist, daß das zu MOX-Brennelementen verarbeitete Plutonium nach dem erneuten Reaktoreinsatz nicht mehr ohne weiteres für militärische Zwecke zur Verfügung steht. Die AtomgegnerInnen befürchten jedoch, daß mit der Inbetriebnahme der MOX-Anlage Plutonium in alle Welt transportiert wird und so die atomaren und auch militärischen Risiken weiter erhöht werden.

In den letzten Jahren aber hat BNFL vier Rückschläge erlitten, und alle vier können das Ende für die Wiederaufarbeitung bedeuten:

Erstens besteht auch in Großbritannien bis heute keine Möglichkeit zur Endlagerung von schwach- und mittelaktiven Atommüll. Nirex - die Endlager Firma - wollte ihn tief unter der Erde in der Nähe von Sellafield in unmittelbarer Nähe des Nationalparks Lake District eingraben. Aber selbst hier, wo viele Leute für die Atomindustrie arbeiten, gab es eine starke Ablehnung gegen diese Pläne. Während man BNFL normalerweise alles erlaubt, gab es diesmal entschiedenen Widerstand. AnwohnerInnen, Umweltgruppen, Kreisräte und auch einige örtliche Industrievertreter taten sich gegen BNFL zusammen. Aufgrund des Widerstands kündigte Nirex zunächst nur an, ein unterirdisches Forschungslabor errichten zu wollen, um die geologische Beschaffenheit zu prüfen.

Störfälle, Pannen
und Probleme

Doch dies wurde von den meisten als Trick erkannt, denn um ein solches Labor einzurichten, müßten zunächst die Schächte und Tunnel gebaut werden. Erst nach der Fertigstellung der wichtigsten Teile eines eventuellen Endlager war vorgesehen, die entsprechenden Genehmigungsanträge für die Errichtung zu stellen. Dann aber wären bereits Fakten geschaffen gewesen. Auf dieses Spiel wollte sich der damalige Umweltminister Gummer nicht einlassen und entschied im März 1997, daß Nirex nicht bauen dürfe.

Diese Weigerung könnte auch Auswirkungen für den Rücktransport des bei der Wiederaufarbeitung anfallenden Atommülls in die Herkunftsländer haben. Geplant war, daß nur hochradioaktiver Atommüll, in Glaskokillen verpackt, in die Herkunftsländer zurück transportiert werden sollte. Der leicht- und mittelaktive Atommüll, so die Planungen der Betreiber, sollte in Großbritannien bleiben. Dies wäre aus Sicht der BNFL einfacher und billiger. Die Zustimmung der Regierung zu diesem Modell war jedoch an die Schaffung eines britischen Endlager gekoppelt. Ohne ein solches Lager muß nun möglicherweise auch der schwach- und mittelaktive Müll zurücktransportiert werden. Das bringt mehr Kosten und mehr Kritik. Denn in den Kundenländern wird das Konzept Wiederaufarbeitung dadurch noch unattraktiver. Einer der größten Vorteile für die Verträge mit der BNFL war in der Vergangenheit, daß man den unerwünschten Abfall los war.

So bleibt der Atommüll bis heute im Sellafieldkomplex gelagert, auch das hochradioaktive Strahlenmaterial. Bis heute ist davon noch nichts an die Lieferländer zurückgeschickt worden. Um mehr Lagerkapazitäten zu schaffen, wurden neue oberirdische Hallen gebaut, und die Leute fürchten, daß der Müll überhaupt nicht mehr wegkommt und Cumbria tatsächlich zum atomaren Mülleimer der Welt wird.

Zweitens gibt es erhebliche Probleme in der WAA selbst. Seit Betriebsbeginn im Jahre 1994 hat THORP nicht so funktioniert, wie man es bei BNFL erhoffte. In den ersten zehn Jahren (bis 2004) sollten insgesamt 7.000 Tonnen bestrahlter Brennelementen behandelt werden. Doch statt der 700 Tonnen pro Jahr, hat man in den drei ersten Jahren nur 680 Tonnen durch die Anlage geschleust. In den sieben nächsten Jahren müssen also mehr als 900 Tonnen pro Jahr aufgearbeitet werden, damit sich die Anlage rentiert. Doch ohne weiteres läßt sich die Verarbeitungskapazität nicht erhöhen. BNFL mußte feststellen, daß die genehmigten Strahlengrenzwerte dazu nicht ausreichen würden. Deshalb wurde letztes Jahr eine weitere Genehmigung beantragt, um höhere Grenzwerte einzuführen.

Doch noch vor der Entscheidung der Regierung sind zwei weitere Probleme hinzugekommen. Im März 1998 bekam die Bürgerinitiative CORE (Cumbrians opposed to a radioactive environment) eine anonyme Meldung von einem Arbeiter aus dem Atomkomplex. Demnach gab einen schweren Störfall in THORP. Metallscherben hatten eine Rohrleitung in der Anlage durchschlagen. Durch die entstandenen Löcher war radioaktive Flüssigkeit in die Anlage entwichen. Die so erzwungene Abschaltung der Anlage wollte BNFL als "routinemäßige Überprüfung" verkaufen. Laut Greenpeace soll THORP nach über fünf Monaten Stillstand erst Mitte Oktober wieder in Betrieb gegangen sein.

Am 16. Juli dieses Jahres kam es zu einem weiteren Störfall in der alten Magnox-WAA B205, der zur Schließung führte. Durch ein Leck in einem Anlagenteil, in dem die Abfälle aus den Magnoxbrennstäben behandelt werden, war Radioaktivität ausgetreten. Bis heute ist unklar, welche Reparaturmaßnahmen ergriffen wurden und ob mit der Wiederaufarbeitung weitergemacht wird.

Drittens ist der OSPAR-Vertrag von Bedeutung. 15 Regierungen, einschließlich der Regierung von Großbritannien, haben im Juli 1998 den Vertrag zum Schutz der Meere unterzeichnet. Der Vertrag dürfte mittelfristig Folgen für die WAAs in Schottland, England und Frankreich haben. Die Regierung muß bis Januar 1999 einen Plan vorlegen, wie sie die radioaktiven Ableitungen in die Meere reduzieren können. Bis 2000 muß sie den Plan umgesetzt haben und bis 2020 muß die Einleitung von Radioaktivität ins Meer schrittweise auf nahezu Null reduziert werden.

Die einfachste und billigste Methode das zu tun, wäre, sofort mit der Wiederaufarbeitung aufzuhören. Doch davon will die Industrie nichts wissen. Statt dessen sollen weitere Millionen Pfund Sterling für neue Filtertechnologien ausgeben werden.

Viertens: das deutsche Wahlergebnis und die rot-grünen Vereinbarungen für einen Ausstieg aus dem Atomalptraum. Deutschland ist BNFLs zweitgrößter ausländischer Kunde und hat Verträge für mehr als 1500 Tonnen Brennelemente. Die Annullierung dieser Verträge wird erhebliche Konsequenzen für die Rentabilitätsrechnungen der Sellafield-Betreiber haben. Da die Verträge durch eine Änderung des deutschen Atomgesetzes annulliert werden, sind Geldstrafen für die deutschen Energieversorger unwahrscheinlich. Während die britischen Anti-Atom Aktivisten jubeln und hoffen, daß die neue deutsche Bundesregierung das WAA-Verbot durchsetzen wird, haben die Atomgewerkschaften angekündigt, alles zu tun, um die deutsche Entscheidung rückgängig zu machen. Der regionale Abgeordnete Jack Cunningham und einige Ratsmitglieder des Cumbria County Councils haben ihnen ihre Unterstützung zugesagt.

Doch alle vier Schwierigkeiten - kein Endlager, ernste technische Störfälle, OSPAR-Vertrag und die rot-grüne Regierung in Deutschland - lassen die Hoffnung wachsen, daß das Ende der Wiederaufarbeitung in Sicht ist.

Der Widerstand
gegen Sellafield

Für die meisten Briten ist Lethargie das Schlüsselwort ihres Verhältnisses zur Atomenergie, eine Anti-Atom-Bewegung, die überregional an den zahlreichen Atom-Standorten arbeitet, gibt es in England nicht. Ohne ein Verhältniswahlsystem gibt es wenig politische Anerkennung von "grünen" Fragen im allgemeinen. Vor der letzten Wahl war die Labour Party der Atomenergie und der Wiederaufarbeitung nicht besonders zugetan, doch seit der Regierungsübernahme hat Tony Blair kein Interesse für einen Ausstieg gezeigt.

Hauptproblem innerhalb der Labour-Partei: Dr. Jack Cunningham, bis vor kurzem noch als "Enforcer" der Partei bezeichnet, ist Abgeordneter für Copeland, der Region um Sellafield, und Atomfanatiker. Nicht viele Abgeordnete in der Partei haben soviel politische Erfahrung wie er, der bereits in der letzten Labour-Regierung Umweltminister war. Heute ist er eine der mächtigsten Personen innerhalb der Regierung.

Trotz dieser Hindernisse gibt es aber auch in England Widerstandsnester, innerhalb der Labour-Partei und außerhalb. Es gibt eine Bürgerinitiative - CORE mit zwei hauptamtlichen Angestellten, Martin Forwood und Janine Allis-Smith, und einem Jahresbudget von 100.000 Mark. CORE besucht regelmäßig die WAA Sellafield, recherchiert alle verfügbaren BNFL-Akten und Zeitungen, erstellt für verschiedenste Zwecke Berichte und erhält auch immer wieder wichtige Informationen von desillusionierten Atomarbeitern und ist für die Presse immer ein wichtiger Ansprechpartner.

Die großen nationalen / internationalen Umweltgruppen - Friends of the Earth und Greenpeace - arbeiten ständig gegen die WAA Sellafield. Von London aus sind permanent zwei Greenpeace-Aktivisten, ein Wissenschaftler und ein Campaigner mit der Anlage befaßt. Obwohl gegenüber atomkritischen Stimmen in der Umgebung von Sellafield eine große ablehnende Haltung anzutreffen ist, sagen einige, daß diese zwei Gruppen als wichtige Wachhunde funktionieren, zuverlässiger vielleicht als zuständige Ministerien.

Im Frühling dieses Jahres entdeckte BNFL, daß Tauben, die in einigen Gebäuden der WAA Sellafield nisteten, verstrahlt waren. Tagsüber besuchten viele der Tauben ein Haus in der Nähe, wo zwei Schwestern sie fütterten. Untersuchungen auf dem Grundstück hatten zur Folge, daß die Erde und das Gras im Garten durch den Vogelkot und die Federn derart stark verstrahlt waren, daß beides als Atommüll abgetragen werden mußte, die meisten Tauben wurden getötet. Obwohl der radioaktive Kot und die Federn natürlich flächendeckend in der Umgebung der WAA verteilt sind, hat es jedoch weitere Dekontaminationen nicht gegeben.

Greenpeace hat diese Tauben daraufhin als "fliegenden Atommüll" bezeichnet. Kurz danach gab Greenpeace eigene Untersuchungsergebnisse bekannt, nach denen einige Orte in Cumbria verseuchter sind als einige Gebiete in der Sperrzone von Tschernobyl.

In diesem Sommer haben wir mit unserer Ortsgruppe von Friends of the Earth kräftig gegen die Einfuhr von Brennstäben aus dem Ausland gearbeitet. Da zwei Drittel des Geschäftsvolumen aus dem Ausland kommen und es keinen Plan für die versprochene Rücksendung des Atommülls gibt, ist das die Achillesferse der Industrie. Die Leute wollen nicht, daß es hier bleibt. Aber die Regierung und die BNFL wollen bis heute nicht zugeben, daß ihre Planungen darauf hinauslaufen, den Atommüll auf Dauer in England zu belassen. Im Rahmen einer Demonstration haben wir auf das italienische Beispiel aufmerksam gemacht. Im Jahr 1990 sind die italienischen WAA-Verträge vollständig gekündigt worden. Der bis dahin entstandene Atommüll lagert jedoch bis heute in Sellafield und ein Rücktransport ist bis heute nicht vorgesehen.

Auf dem Strand neben Sellafield enthüllten wir einen vier Meter hohen "radioaktiven" Hummer und sammelten in wenigen Stunden in den eher atomfreundlichen Städten West-Cumbrias fast 2000 Unterschriften für unsere Forderung, die Einfuhr ausländischer Brennelemente zu beenden und ein Konzept für den Rücktransport des in Sellafield lagernden Atommülls auszuarbeiten. Die Chancen, daß es mit der Wiederaufarbeitung in Sellafield bald vorbei sein könnte, stehen gut.

Jill Perry, Cumbria, UK


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