ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 443 / 26.10.2000
Minister Trittin hatte versprochen, möglichst schnell aus der Atomwirtschaft auszusteigen: "Der Ausstieg muss noch in dieser Legislaturperiode beginnen." Dann kamen die langen Winterabende und kurz vor Weihnachten sagte er, er würde sich "mit einem Ausstieg binnen 20 Jahren zufrieden geben". Der Kanzler, der das nicht hören mochte, wünschte sich "mehr Fischer und weniger Trittin".
Da versank der Minister in tiefe Nachdenklichkeit und fand die Lösung: Keine Anlage "soll länger als 25 Jahre laufen". Als er bemerkte, dass der Kanzler noch immer unzufrieden war, erhöhte er schnell, als säße er in einer Skatrunde, auf "28".
Nun drohte die Industrie mit dem Ausstieg aus dem Bündnis für Arbeit. Der Minister kam wieder ins Grübeln und erkannte bald: "30 Jahre - 30 Jahre gehen auch ohne Konsens. Dabei gehen wir keinerlei rechtliches Risiko ein." Das war's, dachte er, und schlug beim Frühstück beiläufig das Hamburger Abendblatt auf. Da stand, er sei noch immer "der einsame Reiter und der sarkastische Asket".
Der Schreck fuhr ihm derart in die Glieder, dass er seinen Grünen Delegierten so laut er konnte zurief: "32 Jahre sind ein gutes Ergebnis." Der Parteitag spendete tosenden Applaus und viele Grüne mit Rang und Namen fielen ihm vor Dankbarkeit um den Hals. Sie mochten auch dann nicht aufhören, ihn zu herzen, als er hinzufügte, dass 32 Jahre durchaus keine 32 Jahre seien. "Die Unternehmen können teure Nachrüstungen sparen, wenn diese sich für ein Kraftwerk nicht mehr lohnen und statt dessen Laufzeit und Strommenge auf ein anderes übertragen," das in diesem Fall natürlich viel länger in Betrieb sein dürfe als 32 Jahre. Vielleicht auch 40 Jahre. Wieder spendeten die Grünen ihm tosendem Applaus, weil sie nun endlich das Wesen der Realpolitik verstanden hatten: Man kann nicht alles haben. Wer einen Atomausstieg will, der darf nicht zusätzlich noch verlangen, dass ausgestiegen wird. Mit diesem Schachzug, verkündete er landauf landab, sei es ihm gelungen, "die Blockade der Industrie zu brechen".
Die Industrie hatte sich tatsächlich bereit erklärt, in einem Atomkonsens-Papier den Satz zu unterschreiben: "Wir akzeptieren den Primat der Politik."
Sich der ganzen Tragweite des historischen Augenblicks bewusst, sagte der Minister: "Aber natürlich birgt der Satz, den die Energieversorger unterschrieben haben - ,wir akzeptieren den Primat der Politik` - eine tiefe Wahrheit."
Die Wahrheit lag wirklich tief. Die Atomanlagen durften nun solange laufen, wie sie es selber nicht aushalten, und dafür hatte die Industrie sich breitschlagen lassen, den Parlamentarismus zu akzeptieren. Der Minister betrachtete sein Werk mit Wohlwollen und plauderte über seine wahre Mission: "Ich hatte tatsächlich alle Hände voll zu tun mit dem Atomkonsens (und nun) erwarte ich ein Abflauen der Proteste von Atomkraftgegnern."
Und während er in Zufriedenheit schwelgte, fragte ihn ein Journalist, ob denn bis zur nächsten Bundestagswahl wenigstens ein AKW abgeschaltet werde. Ein typischer Rückfall in den Fundamentalismus, dachte der Minister und bot sein ganzes dialektisches Repertoire auf: "Ich sage, wenn man zwei Kraftwerke ein halbes Jahr früher stilllegt, 17 weitere aber drei Jahre länger laufen, dann ist dieser Preis die Symbolik nicht wert."
Seine Dialektik war so tiefgründig, dass keiner mehr zu fragen wagte, warum denn 17 Anlagen drei Jahre länger laufen, wenn man zwei Anlagen ein halbes Jahr früher stilllegt. Nur Rudolf Scharping hatte sofort begriffen. Er würde in künftigen Kriegen nicht mehr Bilder hoch halten müssen, auf denen nichts zu erkennen war, sondern einfach sagen: Wenn man einen Krieg ein halbes Jahr früher beendet, dann laufen 17 andere Kriege drei Jahre länger und wer will das schon. - Als der Journalist nachfragte, ob denn nun oder ob nicht, wurde der Minister wütend. "Es soll keiner glauben, mit der Abschaltung einer Anlage ... würde der Ausstieg unumkehrbar."
Jede abgeschaltete Anlage "wäre schnell wieder betriebsbereit".
Seine Dialektik wurde immer feiner. Was konnte er gemeint haben. Wenn ein Ausstieg mit der Abschaltung einer Anlage umkehrbar ist, wäre dann ein Ausstieg ohne jede Abschaltung von Anlagen unumkehrbar? Oder wollte er sagen: Die Abschaltung von Anlagen lohnt schon deshalb nicht, weil sie ja wieder angeschaltet werden können. Vielleicht hatte der Minister auch nur subtil auf sein Prinzip aufmerksam machen wollen, nach dem er bisher immer gehandelt hatte: Auf jeden Ausstieg folgt der Einstieg. Das war bei der Altauto-Verordnung genauso wie mit der Sommersmog-Novelle, wo er sich den Scherz erlaubt hatte, zunächst eine Novelle vorzulegen, in der es bei hohen Ozonwerten ein Tempolimit und das Verbot von Malerarbeiten und Rasenmähen geben sollte. Dann hatte er sie zurückgenommen und eine neue Novelle vorgelegt, in der es nun jedem erlaubt wurde, so schnell zu fahren und so oft Rasen zu mähen wie er lustig ist. Dazu hatte er lapidar erklärt: "Kurzfristige Maßnahmen brächten wenig, besser ist es, langfristig die Ozonvorläufersubstanzen zu bekämpfen."
Wieder diese rätselhafte Dialektik. Ein Tempolimit würde die Ozonvorläufersubstanzen zwar bekämpfen, hatte er herausgefunden, weshalb der Verzicht auf ein Tempolimit langfristig die Ozonvorläufersubstanzen besser bekämpfen würde oder so. - Er hatte den Journalist ganz vergessen, der hartnäckig wissen wollte: ob denn nun oder ob nicht. Also, passen Sie mal auf, sagte der Minister: "Derzeit sind 9 von 19 Meilern an der Grenze der Wirtschaftlichkeit. Wenn der Rauch verflogen ist, werden die Kaufleute der Konzerne kühl kalkulieren und handeln."
Damit hatte er eine noch tiefere Wahrheit angesprochen als vor ihm die Energiewirtschaft. Wenn jemand aussteigen würde, war es die Industrie selber. Mit ihm hatte das gar nichts zu tun. Dass er trotzdem wichtig war, erfuhr er dann von Bärbel Höhn, die erkannt hatte: "Strahlenden Müll kann man nicht einfach auf der Straße herumliegen lassen."
Der Minister pflichtete ihr bei und handelte. "Wir haben fünf innerdeutsche Transportgenehmigungen erteilt," sagte er, und der Müll aus Frankreich und England werde noch dazu kommen.
"Jeder weiß, wo die Abfälle herkommen: aus Deutschland; und jeder weiß auch, wo sie hinkommen: nach Gorleben."
Einmal in Fahrt gekommen, forderte er die niedersächsische Regierung auf, "sich mit ihrer Ablehnung von Castor-Transporten ... nicht zu weit aus dem Fenster zu hängen".
Am nächsten Tag warf er beim Frühstück einen Blick in die Frankfurter Rundschau und war entsetzt über das, was er zu lesen bekam: "Noch bevor auch nur ein einziges AKW vom Netz gegangen ist werden die rollenden Castoren den Lüchow-Dannenbergern zeigen, was ein Atomausstieg im Zeichen der Realpolitik bedeutet. ... Denn ausgerechnet der rot-grüne Atomkonsens wird es der Region Gorleben nun abverlangen, die Rolle als Atomklo der Nation zu akzeptieren."
Begreifen die denn gar nichts, dachte der Minister und wühlte nervös in seiner dialektischen Trickkiste herum, bis er die Lösung gefunden hatte: "Zum Atomausstieg gehört nicht nur, dass Transporte vermieden werden, sondern auch, dass sich nicht alle vermeiden lassen."
Scharping horchte wieder auf. Zum Frieden gehört nicht nur, dass Kriege vermieden werden, sondern auch, dass Kriege sich nicht vermeiden lassen. Das ist gut, dachte er, das ist wirklich gut. - Beseelt von seinem Auftrag, den Atom-Müll zu verteilten, eilte der Minister zur Polizei-Führungsakademie und lobte die versammelten Polizisten "für ihre Ruhe und Besonnenheit" und scherzhaft "auch für ihre sportive Leistung." Er rief die Polizisten auf zu einer "fairen Streitkultur mit den Atomkraftgegnern". Aber der Inspekteur des Bundesgrenzschutzes war skeptisch: "Die Botschaft ... haben wir wohl gern gehört. Allein, den Polizisten fehlt der Glaube. Am Ende geraten wir doch wieder zwischen die Steine. Was sollen wir denn nach Ihrer Meinung mit denen machen, die sich nicht an faire Spielregeln halten?"
Dem Minister hatte es schon lange gedämmert, dass beides nun mal nicht zusammen geht. Man kann nicht die Verantwortung für die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, ihre Techniken, ihre Wertvermehrung, ihre Eroberungsgelüste, für ihre Ordnung und ihre Polizeiapparate übernehmen und gleichzeitig dagegen sein. Also antwortete er: "Die Polizei soll Recht und Gesetz gegenüber jenen durchsetzen, die bei ihrem Protest gegen die Castor-Transporte die von dem Grundgesetz gezogenen Grenzen überschreiten."
So weit war er mit sich zufrieden, nur eines wurmte ihn: "Warum fragt mich keiner zur Rotbauchunke?"
Ja, diese Frage kann ich nur an euch weitergeben. Fragt ihn doch mal irgendwas zur Rotbauchunke. Ich nehme seine Antwort vorweg: Wenn man die Rotbauchunke ein halbes Jahr zu früh rettet, dann senkt sich die Lebenserwartung der Bevölkerung mindestens um drei Jahre oder so ähnlich.
Rainer Trampert
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