akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 438 / 11.05.2000

Türkei auf dem Weg zum Atomstaat?

Zum wiederholten Male hat die türkische Regierung die Entscheidung für den Bau des ersten Atomkraftswerks auf Mitte Juli verschoben. Dennoch sind die Pläne für den Einstieg in ein türkisches Atomprogramm nicht vom Tisch. Gegen das im Erdbebengebiet geplante AKW Akkuyu regt sich aber auch in der Türkei immer mehr Widerstand.

Um die Auftragsvergabe hatten sich bereits vor drei Jahren drei Konsortien beworben:

(a) Nuclear Power International (NPI) Ein Konsortium unter Beteiligung von Siemens (D), Framatome (F), Garanti-Koza (TR) und Simko-STFA-Tekfen (TR). Mit einer Kapazität von 1.482 MW soll das AKW Strom für 2,56 Cents/kWh liefern und insgesamt 2,39 Mrd. US-Dollar kosten.

(b) Atomic Energy of Canada Limited (AECL) unter Beteiligung von Kvaerner (GB, N), John Brown (USA), Hitachi (J), Ansoldo (I), Guris-GAMA-Bayindir. Bei einer Kapazität von 1.339 MW und Erstellungskosten von 2,57 Mrd. US-Dollar soll die Kilowattstunde 3,3 Cents kosten.

(c) Westinghouse (USA, GB), Mitsubishi Heavy Ind. (J), Raytheone and Duke (USA) und ENKA Insaat (TR). Deren Angebot umfasst ein Kraftwerk mit 1.218 MW, welches 3,28 Mrd. US-Dollar kosten soll und einen Strompreis von 3,35 Cents/kWh ergibt.

Lange war NPI von der türkischen Atomenergiebehörde (Türkiye Atom Enerjisi Kurumu, TAEK) und dem Energieversorger Türkiye Elektrik Üretim ve Iletim AS (TEAS) favorisiert worden, da es das technisch und wirtschaftlich beste Angebot war. Doch als Anfang Januar die angesehene Zeitschrift Nucleonics Week meldete, dass die deutsche Bundesregierung eine Kreditbürgschaft für das Geschäft nicht befürworten würde, sanken die Chancen von NPI drastisch. Gleichzeitig intensivierten die anderen Bieter ihre Bemühungen. Die kanadische Regierung gab bekannt, sich mit einer Mrd. US-Dollar an dem kanadischen Angebot zu beteiligen.

Doch wegen der schweren Erdbeben in Adana und Izmit verschiebt sich die Auftragsvergabe immer wieder. Erst kürzlich wurde bekannt, dass das U.S. Geological Survey im Umkreis von 60 Meilen um die geplante Baustelle bei Akkuyu seit 1973 insgesamt 31 Erdbeben registriert hat. Professor Atilla Ulug, Mitglied der Anti-Atomplattform und Erdbebenexperte bestätigte diese Angaben und fügte hinzu, dass die zentrale Ecemis-Falte lediglich fünf Kilometer von der Baustelle entfernt verläuft. Der Turkish Daily News sagte er: "Die Region ist geologisch zu instabil, um darauf ein AKW zu betreiben. In dieser Region muss jederzeit mit einem starken Erdbeben gerechnet werden."

AKW mitten im Erdbebengebiet

Anfang März stellte sich heraus, dass Prof. Mustafa Erdik bereits im November 1999 einen Bericht an die TEAS geschickt hatte, in dem er alle Bedenken bestätigte. Erdik gilt als angesehener Experte und betreibt u.a. Erdbebenforschung an der Bospurus-Universtät in Istanbul. Doch sein Bericht wurde bis März von der TEAS nicht an die Regierung weitergeleitet, obwohl er für eine Entscheidung überaus bedeutsam ist. Wenige Tage vor der angekündigten Entscheidung im April meldete der türkische Finanzminister Bedenken zur Finanzierbarkeit des Projekts an. Im laufenden Jahr sei die Türkei nicht in der Lage, eine Garantie für die Finanzierung zu übernehmen. Inzwischen ist die Entscheidung abermals vertagt, diesmal auf den 24 Juli. Über den Ausgang wagt derzeit niemand mehr eine klare Prognose.

Wenig ist öffentlich bislang über den Zusammenhang des geplanten AKW mit einer türkischen Nuklearbewaffnung diskutiert worden. Die Regierung verweist auf die Unterschrift unter den Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen. Deutlich wurde allerdings der zur extrem rechten MHP (Milliyetci Hareket Partisi - Nationalistische Bewegungs-Partei) gehörende türkische Verkehrsminister Enis Oksuz: "Wenn Du die Atombombe erwähnst, haben alle Angst, sie würde Menschen töten. Aber sie ist seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr verwendet worden. Eine solche Waffe in der Hand der Türkei würde Sicherheit bedeuten. Sie verschafft Abschreckung."

Türkischer Energiehunger
für die EU

Im regierungsinternen Streit, welches der drei Konsortien den Auftrag bekommen soll, spricht sich die MHP für das kanadische Konsortium aus, weil es nach Angaben des verstorbenen Führers der MHP, Türkes, auch Technologie für den Bau von Atomwaffen verspreche.

Mesut Yilmaz, Vorsitzender der mitregierenden Mutterlandspartei (ANAP), hatte zunächst das deutsche Angebot unterstützt. Nachdem deutsche Subventionen ausblieben, unterstützt die ANAP nun das US-amerikanische Angebot. Ministerpräsident Bülent Ecevit äußerte sich zwar kritisch zum Kraftwerksbau, sehe sich aber an die alten Verträge gebunden.

Der nationale Sicherheitsrat hat sich bislang mit Äußerungen zurückgehalten. Eine Stellungnahme dieses Gremiums käme einer Entscheidung gleich. Anfang März war jedoch bekannt geworden, dass der Direktor des nationalen Energieausschusses, Ibrahim Kavrakoglu, dem Sicherheitsrat seine Bedenken erläutert hatte: Ein AKW wäre mit den Interessen der Türkei unvereinbar und würde neue Risiken hervorrufen. Ein AKW zu betreiben bedeute keinen wirklichen Schritt in die Nukleartechnologie. Er verglich dies mit der Turkish Airlines, die zwar Flugzeuge benutze, aber nicht über Luftfahrttechnologie verfüge. Außerdem befürchte er durch den AKW-Bau Umsatzeinbußen beim Tourismus. Auch zu den Energiebedarfsrechnungen äußerte er sich kritisch.

Um die geplanten zehn AKWs zu rechtfertigen, werden von der Regierung die Energiebedarfsprognosen hochgerechnet. Während im Jahr 2000 ein Stromverbrauch von 134 Milliarden kWh erwartet wird, sollen es 2020 insgesamt 546 Milliarden kWh sein. Derartige Hochrechnungen hat es bereits 1970 gegeben. Damals war für das Jahr 2000 ein Bedarf von 200 Milliarden kWh prognostiziert worden. Begründet wird dieser Anstieg mit der geplanten Industrialisierung des Südostens und einem veränderter Lebensstil der Privathaushalte. Der steigende Stromverbrauch sei Voraussetzung dafür, dass sich die türkische Ökonomie an westeuropäische Standards anpasse. Die Türkei erzeugt etwa 92% des eigenen Bedarfs selbst, der Rest-Strom wird aus Bulgarien, dem Iran und Georgien importiert. Inzwischen sind in den Nachbarländern der Türkei reiche Gas- und Ölvorkommen gefunden worden. Ein Gaskraftwerk lässt sich in einem Viertel der Zeit und zu erheblich niedrigeren Kosten errichten. Diese Ressourcen und der mögliche weitere Ausbau der Wasserkraft können den Bedarf der Türkei decken.

Im Januar wurde in verschiedenen Regionen der Türkei der Strom täglich für zwei Stunden abgestellt. In der Region des geplanten AKW um Akkuyu und Mersin kam es gar zu Unterbrechungen von bis zu vier Stunden. Zunächst nannte das Energieministerium diese "drastischen Einsparungsmaßnahmen" als unumgänglich und dass diese sich ohne den AKW-Bau noch drastisch verlängern würden. Erst nach zahlreichen Protesten räumte Minister Ersümer ein, dass die Unterbrechungen aus technischen Mängeln resultierten.

Die Kammer der ElektroingenieurInnen in Izmir (EMO) setzt hier ihre Kritik an. Die Energiekrise der Türkei sei keine Frage der fehlenden Ressourcen, sondern eine des schlechten Managements. Ein AKW stelle keine Lösung dar, weil es nicht helfe, das veraltete Leitungsnetz und die Infrastruktur zu erneuern. Nach Berechnungen der EMO verliert das Leitungsnetz 20% mehr an Energie, als notwendig. Damit gehöre es zu den schlechtesten der Welt. Dieser Verlust sei auch durch die geplanten 10 Atomkraftwerke nicht zu kompensieren.

Anfang März meldete sich die griechische Regierung zu Wort und legte eine Studie vor, die für einen GAU eine atomare Verseuchung Athens nach zwei bis maximal drei Tagen berechnet. Sie warnt auch vor möglichen Folgen für die Natur und den Tourismus, da das Kraftwerk u.a. mit Wasser aus dem Mittelmeer gekühlt werden soll. Zyperns Außenminister Ioannis Cassoulides protestierte mit ähnlichen Befürchtungen gegen den geplanten Bau. Akkuyu liegt direkt nördlich von Zypern. In beiden Fällen handelt es sich aber um eher verhaltene Proteste, die deutlich machen, dass der Kraftwerksbau zu keinen zwischenstaatlichen Problem führen soll.

In der betroffenen Region, aber auch in verschiedenen Städten regen sich bereits seit Jahren Proteste, die seit dem Herbst zunahmen und im Dezember 1999 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten.

Die Bewohner Akkuyus stimmten in einer Umfrage von Greenpeace und lokalen Gruppen mit 84% gegen den Bau eines Kraftwerks. Ein breites Bündnis rief Ende Dezember zu einer Demonstration auf, zu der 2.500 Personen nach Mersin kamen.

Unterstützung erhält der Protest von den Dorfbewohnern aus Bergama, die in der Türkei für ihre unkonventionellen Aktionen gegen den geplanten Goldabbau mit Zyanid bekannt sind. Die Männer protestieren regelmäßig mit nackten Oberkörper und überschrieben eine Aktion im Dezember mit dem Slogan: "Wir wollen kein AKW. Nicht in Akkuyu noch anderswo"

In den Städten Ankara, Adana, Antalya, Eskisehir, Istanbul und Izmir haben sich Plattformen gegen den Bau von AKWs in der Türkei gebildet, an denen sich ein breites Spektrum von Nichtregierungsorganisationen beteiligt, darunter die Kammern der IngenieurInnen, AnwältInnen und ÄrztInnen. Immer wieder traten diese Plattformen mit symbolischen Aktionen und Presseerklärungen auf. So kündigte die Izmirer Plattform an, sie werden eine Kampagne gegen den Bau ins Leben rufen und jede Form von Protest unternehmen, um den Bau zu verhindern.

Anti-AKW-
Bewegung
entsteht

In Istanbul erreichte ein ähnlich breites Bündnis am 1. März mit einer symbolischen Aktion die Öffentlichkeit. Auf dem Taksim-Platz ließen sie eine Sirene ertönen, fielen wie tot zu Boden und skandierten "Der Tod braucht keine Energie". 45 von ihnen wurden vorübergehend festgenommen. Die Ärzte traten bei einer Aktion im Dezember in Kitteln auf, skandierten "Eure Ärzte wollen keine AKWs" und zeigten Bilder von verkrüppelten Kinder, die nach dem GAU in Tschernobyl geboren wurden. Diese Bilder sind verbreitetes Material der Bewegung. Plakate, Broschüren und Handzettel mahnen mit Fotografien dieser Art an die Unbeherrschbarkeit.

Als Erfolg der Protestbewegung kann betrachtet werden, dass Umweltminister Feyzi Aytekin öffentlich zugeben musste, über die von Atomkraftwerken ausgehende Gefahr nicht informiert gewesen zu sein. Während einer Konferenz in Mersin (Içel) am Februar luden ihn die BewohnerInnen von Büyükeceli (Akkuyu) ein, sich die Umgebung anzusehen und sich besser zu informieren. Das lehnte der Minister ab.

Die staatliche Repression auf die Anti-AKW-Bewegung kann für türkische Verhältnisse als maßvoll bezeichnet werden. In aller Regel werden die AktivistInnen der Aktionen für einige Stunden auf die Polizeiwache mitgenommen, erkennungsdienstlich behandelt und wieder freigelassen. Es folgt eine Anklage wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, ein Verfahren, das eingestellt wird oder mit Geld- und Bewährungsstrafen endet.

Die Bewegung, die auf den ersten Blick einen aktiven und geschlossenen Eindruck macht, ist gespalten. Dabei treten die Trennungslinien dort auf, wo die politischen Vorstellungen über das eine Ziel, den AKW-Bau zu verhindern, hinausgehen. Gestritten wird über die Führungsansprüche verschiedener politischer Organisation oder Parteien innerhalb der Plattformen. Die Plattform in Istanbul ist über diese Auseinandersetzung handlungsunfähig geworden. Verschiedene politische Strömungen bilden dort ihre eigenen Plattformen, die an einer Kooperation nur mäßig interessiert sind.

Trotz der guten Medienpräsenz wird der Einfluss der Protestbewegung auf die Entscheidung - auch von Aktiven der Bewegung selbst - als gering eingeschätzt. Die Bedeutung der Proteste liegt m.E. darin, dass ein Politikmodell von sozialer Bewegung vorgestellt und für deren Handlungsmöglichkeiten geworben wird.

Jörg Rohwedder

Der Artikel basiert auf Agentur- und Zeitungsmeldungen zwischen Dezember 1999 und März 2000, u.a. Milliyet,
Cumhuriyet, TDN und Reuters.
Wir haben den Artikel leicht überarbeitet und gekürzt.

Das Original erscheint in Graswurzel-Revolution, Nr. 249 Ausgabe Mai 2000, http://www.comlink.de/graswurzel/


© a.k.i Verlag für analyse, kritik und information GmbH, Rombergstr. 10, 20255 Hamburg
ak Logo www.akweb.de   E-Mail: ak-redaktion@cl-hh.comlink.de
Weiterveröffentlichung in gedruckter oder elektronischer Form bedarf der schriftlichen Zustimmung von a.k.i.