akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 438 / 11.05.2000

Konsens lässt warten

Eigentlich sollten am 14. April die letzten Hindernisse für einen Konsens zwischen Bundesregierung und AKW-Betreibern bei einem Spitzengespräch im Berliner Kanzleramt ausgeräumt werden. Die geplante Vereinbarung sieht unter anderem vor, die Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente spätestens Mitte 2005 zu beenden. Aber wieder einmal musste der Abschluss der Gespräche verschoben werden.

Eineinhalb Jahre nach Antritt der rot-grünen Regierung ist die Entscheidung über den "Ausstieg" der Bundesrepublik Deutschland aus der Nutzung der Atomenergie noch immer nicht in greifbare Nähe gerückt. Das für den 14. April geplante letzte Konsensgespräch, an dem von Regierungsseite neben Bundeskanzler Gerhard Schröder Umweltminister Jürgen Trittin und Wirtschaftsminister Werner Müller teilnehmen sollten, wurde kurzfristig wieder vertagt.

Denn im Vorfeld ist es nicht zu einer Einigung über den Status des AKW Mülheim-Kärlich gekommen. Der 1200-Megawatt-Meiler war bereits 1988 wegen ungeklärter Fragen der Erdbebensicherheit nach nur kurzem Betrieb gerichtlich gestoppt worden. Seitdem bemüht sich der Essener Stromkonzern RWE Energie AG bei der rheinland-pfälzischen Landesregierung um eine neue Betriebsgenehmigung. In einem "Einzelgespräch" mit RWE-Chef Dietmar Kuhnt verhandelten am 11.04. Bundeskanzler Schröder und die Minister Trittin und Müller über die Frage, ob und wie der Meiler am Rhein in das Ausstiegspaket einbezogen werden kann. Der Essener Konzern will durchsetzen, dass sein AKW Mülheim-Kärlich in die Berechnung der Restlaufzeiten einbezogen wird. RWE will seine übrigen Anlagen als Ausgleich länger laufen lassen, wenn Mülheim-Kärlich abgeschaltet bleibt. Dieses Ansinnen scheint auch den übrigen Atomkonzernen nicht einzuleuchten. Möglicherweise wollen sie an dem Mülheim-Kärlich-Bonus teilhaben.

Am 12.04. hat die Bundesregierung in einem weiteren Ministergespräch unter Beteiligung der "Verfassungsminister" Otto Schily und Herta Däubler-Gmelin ihre Position für die Schlussrunde festgelegt.

Nach insgesamt neun Verhandlungsrunden auf Arbeitsebene hatten sich die Fachleute aus Regierung und Stromwirtschaft am 09.04. auf ein Abschlusspapier geeinigt, in dem allerdings neben dem Status des AKW Mülheim-Kärlich auch die Frage der Laufzeiten offen geblieben war. Die Bundesregierung hat sich auf maximal 33 Jahre Gesamtlaufzeit pro Anlage festgelegt, die Betreiber wollen bis zu 40 Jahre.

Das Schlussdokument sieht eine Kontingentierung der Strommengen vor, die insgesamt in Deutschland noch aus Atomkraft erzeugt werden dürfen. Die nach einem komplizierten Modell berechnete Strommenge wird nach Angaben aus Verhandlungskreisen am Ende zwischen 2.100 und 2.300 Terawattstunden (Milliarden Kilowattstunden) liegen. Dabei können die Kraftwerksbetreiber Stromkontingente grundsätzlich flexibel von älteren auf neuere - und deshalb meist wirtschaftlichere - Meiler umschichten. Um dennoch einen Schlusspunkt bei der Atomkraftnutzung zu setzen, müssen die Stromkontingente bis zu einem festgelegten Jahr vollständig abgearbeitet sein. Dieser Zeitpunkt, zu dem das letzte deutsche Atomkraftwerk spätestens abgeschaltet wird, ist in dem Dokument ebenfalls noch offen.

Die Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente wird nach der Vereinbarung spätestens Mitte 2005 beendet. Die Erkundungsarbeiten im Endlager Gorleben sollen noch in diesem Jahr für wenigstens drei, höchstens aber zehn Jahre unterbrochen werden. Während des Moratoriums übernimmt die Stromwirtschaft die Kosten für die "Offenhaltung" des Salzstocks. Die Pilot-Konditionierungsanlage Gorleben, in der ursprünglich verbrauchte Brennelemente für die direkte Endlagerung vorbereitet werden sollten, soll - falls sich ein solcher Fall ergibt - als Reparaturstation für defekte Castorbehälter genutzt werden. Das für die Endlagerung schwach- und mittelradioaktiver Abfälle vorgesehene frühere Erzbergwerk Schacht Konrad bei Salzgitter wird voraussichtlich genehmigt. Allerdings sollen die erwarteten Klagen gegen die Genehmigung bis zur letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung aufschiebende Wirkung haben. Bis dahin hofft die Regierung, ein entscheidungsreifes Alternativ-Konzept zur Endlagerung aller Sorten von Atommüll vorlegen zu können. Um die Zahl der umstrittenen Castor-Transporte zu minimieren, sollen möglichst zügig Zwischenlager an den Kraftwerks-Standorten errichtet werden.

Die den Kraftwerksbetreibern auferlegte Deckungsvorsorge für den Fall eines schweren Nuklearunfalls soll im Atomgesetz von derzeit 500 Millionen in zwei Schritten auf fünf Milliarden Mark verzehnfacht werden. Als Aufsichtsbehörde für die Abwicklung der Atomenergie ist das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in Salzgitter vorgesehen, das dem Berliner Umweltministerium nachgeordnet ist. Die Betriebsgenehmigungen erlöschen automatisch, wenn die Kraftwerke die ihnen zugestandene Strommenge produziert haben. Mit dieser Konstruktion will die Bundesregierung vermeiden, dass das Ausstiegsgesetz vor den Bundesrat muss, der von den Unionsparteien dominiert wird.

Die CDU/CSU-Opposition im Bundestag hat in Gesprächen mit der Stromwirtschaft deutlich gemacht, dass man die Rechnung für eine langfristig solide Energiepolitik nicht ohne sie machen könne. An einem Treffen am 13.04. haben die neue CDU-Vorsitzende Angela Merkel, der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz und der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Michael Glos, teilgenommen. Die Delegation der Energieunternehmen wurde von VEBA-Chef Ulrich Hartmann und dem RWE- Vorstandsvorsitzenden Dietmar Kuhnt angeführt.

Die Unions-Parteien dringen auf eine Beteiligung an den derzeit laufenden Verhandlungen über einen Atomausstieg. In den Konsens-Gesprächen dürften keine "Verabredungen zu Lasten Dritter" getroffen werden, mahnten die CDU/CSU-Politiker. Sie äußerten den Verdacht, die rot-grüne Koalition wolle die Bundesländer "austricksen". Aus den Informationen über den Gesprächsstand sei deutlich geworden, dass die Bundesregierung ein völlig neues Konzept für die Atommüll-Entsorgung wolle. Damit werde ein von allen getragener Konsens von 1979 aufgekündigt.

Die Union bekräftigte ihre grundsätzliche Ablehnung eines Atomausstiegs. Die Pläne der rot-grünen Bundesregierung seien "rein ideologisch begründet". Sie widersprächen den Zielen beim Klimaschutz und missachteten die Verantwortung Deutschlands auch für die Sicherheit von Reaktoren in Mittel- und Osteuropa. Der Essener Stromkonzern RWE begrüßte die Forderung der Unionsparteien nach einer Beteiligung an den laufenden Verhandlungen über einen Atomausstieg. "Eine zufrieden stellende Lösung dieser für die Unternehmen und den Standort Deutschland essenziellen Probleme bedarf eines breiten überparteilichen Konsenses", sagte der Vorstandschef Dietmar Kuhnt.

Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber geht einem Bericht der Berliner Zeitung vom 15.04. zufolge davon aus, dass der von der Bundesregierung angestrebte vorzeitige Ausstieg aus der Atomenergie nicht mehr machbar ist. Stoiber habe in einem Schreiben an die Stromkonzerne darauf verwiesen, dass die Unternehmen VIAG und VEBA in ihrem Fusionsvertrag zur E.ON einen Einschluss der Atomenergie in ihr Geschäftsprogramm vereinbart hätten. In der Grundsatzvereinbarung heißt es demnach: "Die VEBA-VIAG-Energie AG wird das Energiegeschäft auf der Basis eines vernünftigen Energiemixes unter Einschluss der Kernenergie weiterentwickeln." Ein Verzicht auf AKW würde Konzernvermögen vernichten und wäre "ein gravierender Eingriff in die Rechte der Aktionäre", schrieb Stoiber demnach. Die VIAG gehört zum Teil dem bayerischen Staat. Wie es heißt, geht Stoiber davon aus, dass angesichts der Sachlage für die Energieversorgungsunternehmen "eine Befristung der Laufzeiten von Kernkraftwerken unterhalb 35 Volllastjahren nicht akzeptabel ist". Dies würde rund 40 Kalenderjahren entsprechen.

Dem Bericht zufolge droht Stoiber damit, dass der bayerische Vertreter im Aufsichtsrat des durch die Fusion entstehenden Energiekonzerns E.ON einem zwischen der Bundesregierung und Konzernvorständen vereinbarten Ausstiegskonsens nicht zustimmen werde. Zudem fehle den - bisher erfolglosen - Konsensverhandlungen die "demokratische Legitimation", weil Bundestag und Bundesrat nicht eingeschaltet worden seien. Die Verhandlungen gehen weiter!

Jürgen Sattari

Nachdruck aus anti-atom-aktuell,
Nr. 110, Mai 2000


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