akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 438 / 11.05.2000

Atommüll
in die Ukraine?

Am 26. April jährte sich zum

14. Mal die Nuklearkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl.

Seitdem die Sowjetunion sich aufgelöst hat, muss sich die Ukraine nun selbst um den anfallenden Atommüll aus ihren Reaktoren kümmern. Wie in Deutschland, setzt die ukrainische Regierung nun auf Salz, in dem der Atommüll für Jahrtausende verbuddelt werden soll. Und denkbar ist, dass auch andere Staaten ein Endlager in der Ukraine nicht uninteressant finden.

Merken Sie sich den Namen Artemovsk. Bis zum Jahr 1923 hieß diese ukrainische Stadt Bachmut. Im 16. Jahrhundert fand man dort Salz, und auch heute noch wird in dieser Industriestadt im Donetsker Gebiet, auf das sich 45% aller Industriebetriebe - vorrangig Chemie, Eisenmetall, Maschinenbau und Kohle - konzentrieren, Speisesalz abgebaut. Artemovsk ist möglicherweise bald um eine Branche "reicher", denn statt der tradierten Förderung von Salz steht der Region eine strahlende Zukunft ins Haus: Der Forschungsleiter zur Auswahl von Atommülllagerstätten in der Ukraine, Dmitrij Krushchev, favorisiert den Standort Artemovsk. Atommüll soll in einem Salzbergwerk endgelagert werden, dafür plädiert Krushchev, und auf den "Chefgeologen" der Ukraine und das Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften wird gehört. Dessen Wahl widerspricht zwar dem geologischen Grundsatz, dass eine Deponie "unverritzt" sein soll, zumal es um die Endlagerung hochradioaktiven Mülls geht. Denn ein bereits kommerziell genutztes Bergwerk bietet zu viele Pfade, über die Radioaktivität in die Biosphäre gelangen kann. Hier zu Lande wäre das bei der Standortsuche ein Ausschlusskriterium. Doch was nutzt dieses Wissen, wenn die Not regiert.

Mit Tschernobyl hatte und hat die Ukraine bereits ihre Not. Im Sommer letzten Jahres demonstrierten Arbeiter aus Tschernobyl in Kiew, weil sie schon ein halbes Jahr lang keinen Lohn erhalten hatten, kein heißes Wasser hatten, und die Telefone funktionierten nicht.
In der Ukraine gibt es fünf AKW-Zentren mit insgesamt 14 Reaktoren, von denen zur Zeit 11 in Betrieb sind und die 43 % des Stroms produzieren. Der Rest wird durch Wasser- und Kohlekraftwerke erzeugt. Wärmekraftwerke werden vorwiegend auf Ölbasis betrieben. Da es in der Ukraine keine nennenswerten Gas- oder Ölvorkommen gibt, muss Öl - wie auch Brennstoff für die AKWs - in Russland teuer eingekauft werden.

Merken Sie sich den Namen Artemovsk

Stromabschaltungen gehören zum ukrainischen Alltag. In der Mittagszeit sitzt man in kleineren Städten ohne Strom, ausgeklügelte Zeitpläne für Stromabschaltungen gibt es in den Großstädten. Die Energiekrise wird als wichtigste Aufgabe der Regierungspolitik gesehen, und die offizielle Politik des Autokraten Kutschmas klammert sich an den Reaktorbestand. Das hat weitergehende Folgen. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR weigert sich Russland, abgebrannte Brennelemente anzunehmen. Folglich muss die Ukraine Zwischen- und Endlagerkapazitäten schaffen. Das erste Brennelementbehälterlager entsteht in Saporoschje. Weitere in Rowno, Chmelnizkij und Juschno-Ukainsk sollen folgen. Die Behälter sind eine ukrainische Eigenproduktion. Im Westen Behälter einzukaufen, käme viel zu teuer. Die Pläne, in einem ausgedienten Salzstollen den Atommüll verschwinden zu lassen, gehorchen dieser Not.

Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl vor 14 Jahren hat die Menschen in der Ukraine auch stark sensibilisiert für die Gefahren der Atomkraft. Ein Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen überspannt das Land. In Artemovsk sind es vor allem die Nach-Tschernobyl-Organisation "Mama-86" und die Umweltgruppe "Bakhmat", die Petitionen einreichen, Ausstellungen zu alternativen Energien arrangieren und am 18. März in Artemovsk ein erstes öffentliches Hearing organisierten. Leonid Tabatschnuj, Sprecher des "Ministeriums für Katastrophensituationen", das in der Ukraine zuständig für die Atommülllagerung zeichnet, und besagter Dmitrij Krushchev standen Rede und Antwort. Eine Entscheidung für Artemovsk sei noch nicht gefallen, beschwichtigte Ministeriumssprecher Tabatschnuj, doch die Wahl treffe Krushchev, der Experte. Und jener machte deutlich, dass er Salzgestein und Artemovsk favorisiere.

Ausweichplatz westlicher Atom-Nationen?

Über dieses erste öffentliche Hearing, das in der Schlusserklärung zu einem Anti-Atom-Statement mutierte, berichtete bislang nur die lokale Presse und das lokale Fernsehen. Von den offiziellen 171 Teilnehmern, darunter 21 Abgeordnete unterschiedlicher lokaler bis nationaler Regierungsebenen, Vertreter politischer Parteien, bekannte Persönlichkeiten und Umweltgruppen, votierten lediglich fünf für ein Endlager in Artemovsk - ein Ansporn für die Anti-Atom-Aktivisten der Region.

Am 26. April wurde in der Innenstadt von Kiew gegen die Atomkraft demonstriert, eine Protestaktion in der Landeshauptstadt und eine Pressekonferenz zu Artemowsk für den Sommer geplant. Was die Umweltschützer bewegt, formuliert Julia Myasisheva von "Mama-86": "Um es klar zu sagen: wenn in Artemovsk hochradioaktiver Müll eingelagert wird, dann bietet sich der entsorgungsgeschüttelten Atombranche hier zu Lande und in anderen westlichen Atomstromnationen ein Ausweichplatz. Die ukrainische Not macht nicht nur erfinderisch und empfänglich für derartige Notlösungen, sondern auch empfänglich für Devisen."

Wolfgang Ehmke


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