akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 434 / 20.01.2000

Der Laufzeitenschacher

Ob nun noch im Januar oder doch erst im Februar oder März - die möglichen Ergebnisse eines vermeintlichen Konsens zwischen der rot-grünen Bundesregierung und der Atomwirtschaft zeichnen sich ganz allmählich ab. Die Ende letzten Jahres erfolgte Festlegung der Grünen Bundestagsfraktion auf einen Ausstieg mit einer Laufzeit von 30 Jahren je Reaktor war ein deutlicher Schritt. Zusätzlich haben Trittin und Fischer sich darauf eingelassen, den Weiterbetrieb der AKWs nicht lediglich nach Betriebs- oder Volllastjahren zu verhandeln. Stattdessen soll eine maximale Strommenge festgelegt werden, die noch atomar hergestellt werden darf. Welche Anlagen wann abgeschaltet werden, entscheidet dann die Atomwirtschaft. Trotz allen Flügelschlagens: dieser Vorschlag der Grünen Verhandlungsleitung dürfte die Atomwirtschaft mehr als nur interessieren und könnte einen wichtigen Schritt zu einem Konsens darstellen. Unser Autor zeigt auf, worum es geht.

Es ist schon Monate her, da erkannten Joschka Fischer und Jürgen Trittin ein Problem: Ein Konsens mit der Atomindustrie wäre immer mit Laufzeiten von mindestens 30 Jahren verbunden. So würden bis zur nächsten Bundestagswahl nur ein oder zwei AKWs abgeschaltet. Zu wenig für die Grünen, die nach Kosovo-Krieg, Testpanzer an die Türkei usw. endlich einen Erfolg brauchen, um den geneigten WählerInnen ihre Existenzberechtigung nachzuweisen.

Da kamen sie auf den glorreichen Gedanken des Laufzeitenhandels, also eines Tauschs von (Rest-) Laufzeiten zwischen guten (sprich modernen, rentablen) und schlechten (sprich alten, unrentablen) AKWs. Damit konnten sie sicher sein, auch den Geschmack der Betreiber getroffen zu haben. Sind doch alte AKWs wie Brunsbüttel und Stade unwirtschaftlich, wie u.a. ein Gutachten im Auftrag der Hansestadt Hamburg nachweist (vgl. ak 429).

Der Zynismus eines Handels mit Restrisiken erschließt sich aus der Minister-Warte natürlich nicht so leicht und passt ja zur kapitalistischen Durchdringung der Umweltpolitik, die auch z.B. bei den sogenannten "Klimaschutzkonferenzen" beobachtet werden konnte. Dort geht es darum, ob und zu welchen Preisen den weniger industrialisierten Ländern CO2-Ausstoß-Zertifikate abgekauft werden können. Auf das Atom-Thema gemünzt: Wenn Krümmel hochgeht, können sich die HamburgerInnen damit trösten, dass Stade sie nicht mehr erwischen kann!

An diesem "Basis-Vorschlag", auf dessen Idee letztlich die aktuell diskutierte Variante einer "Gesamtstrommenge" beruht, die beliebig zwischen den AKWs (eines Betreibers?) hin- und hergeschoben werden kann, erscheint eines widersinnig: Warum um alles in der Welt sollen die Betreiber dafür, dass sie unrentable Kraftwerke stilllegen, eine Prämie in Form von verlängerten Laufzeiten anderer AKWs bekommen, an denen sie ein wirtschaftliches Interesse haben? Die Vermeidung eines betriebswirtschaftlichen Verlustes (z.B. im Vergleich zur Erzeugung der gleichen Strommenge in einem modernen Gas-Kraftwerk) sollte nach den gängigen turbokapitalistischen Kriterien eigentlich Anreiz genug sein, eine Stilllegung nicht noch weiter hinauszuzögern. Durch eben diesen Mechanismus hofften ja auch Fischer und Trittin, die Stilllegung einer ganzen Reihe von Alt-Reaktoren auf freiwilliger Basis vor der nächsten Wahl zu erreichen.

Nach welchen Tauschregeln Fischer und Trittin den "Swap" von Laufzeiten vorgesehen hatten, ist nicht genau bekannt. Die neue Variante eines Gesamtkontingentes von 2500 tWh lässt hier keine Fragen offen, die Errechnung der Restlaufzeiten ist ein einfaches Rechenexempel:

Die Tauschregeln von Fischer und Trittin

Jetzt hatten wir uns gerade so schön an das Rechnen in RBJ (Reaktorbetriebsjahren) gewöhnt: 1 Super-Gau alle 10.000 Jahre - wie doch die Zeit vergeht - rein statistisch natürlich, heißt bei rund 400 AKWs weltweit: so gegen 2010 wieder. Kann auch früher sein, so viel Statistik haben wir begriffen. Das ging uns gerade schon recht flott von der Hand, da müssen wir uns wieder an was neues gewöhnen: die tWh - die TeraWattStunde. JedeR kennt die Kilowattstunde vom häuslichen Stromsparwettbewerb her: 1 Tag 40-Watt-Birne an macht 1 kWh. Außerdem kostet die kWh 19 Pfennig, es sei denn, sie kommt aus der Solarzelle, dann 2 Mark. Und eine tWh ist eine Milliarde kWh, ganz einfach: 1 tWh = 1.000.000.000 kWh.

Da könnt Ihr Euch nichts drunter vorstellen? Also: Mensch kann RBJ und tWh ineinander umrechnen. Unter gewissen Annahmen, denn seien wir mal ganz ehrlich: Ist denn ein RBJ in einem Riesen-AKW wie Grohnde mit dem eines "Hosentaschen-Kraftwerks" wie Stade vergleichbar? Nein, das war doch nicht ganz gerecht. Wenn es hoch geht, ist es zwar egal, aber bei Grohnde kommt doch viel mehr Strom und damit Geld raus, deshalb zählt es jetzt doppelt! Und schon steht die (Faust-)Formel: 1 RBJ/Stade = 5 tWh, 1 RBJ/Grohnde = 10 tWh. So, nun könnt Ihr Euch unter den 2.500 Terawattstunden, die im (Konsens-)Gespräch sind, etwas vorstellen. Keine Regel ohne Ausnahme: 1 RBJ/Mülheim-Kärlich = 0 tWh (= 0 kWh), obwohl Mülheim-Kärlich ein großes AKW ist. Ist aber auch wieder logisch, denn bei Mülheim-Kärlich kommt überhaupt kein Geld raus, sondern geht immer nur hinein und ist dann weg.

Bevor Ihr Euch jetzt fragt: "Hä, 2.500 Terawattstunden? Warum soll ich 7,5 Milliarden Jahre das Licht brennen lassen?", kommen wir lieber zum Kern der aktuellen Debatte:

Nehmen wir an, Obrigheim, Stade, Brunsbüttel und Biblis A würden kurzfristig stillgelegt, um der kleineren Regierungspartei ihren Anteil am Konsens-Kuchen zu gewähren. Bei den restlichen AKWs handelt es sich vereinfacht gesagt um 12 Kraftwerke der 1.300 MW-Klasse und 3 der 900 MW-Klasse (Philippsburg 1, Neckarwestheim 1, Ohu 1). Eine Verfügbarkeit von knapp 80 % angenommen (etwas weniger als heute, aber je älter die AKWs werden, desto öfter wird auch mal was kaputt gehen), kommen wir auf rund 9 tWh pro "großem" und 6 tWh pro "kleinem" Reaktorbetriebsjahr. Oder einer Laufzeit aller AKWs bis 2019. Oder von Grohnde allein bis 2277 (kein Druckfehler!).

Dieses Extrembeispiel ist natürlich Quatsch, denn selbst das Deutsche Atomforum würde kein AKW 300 Jahre lang betreiben (nehme ich jedenfalls mal an ...). Aber nach allen "Pool-Modellen", die ich kenne, können die Betreiber die Restlaufzeiten bzw. Terawattstunden nach Belieben auf ihre AKWs verteilen. Andere als wirtschaftliche Kriterien für den Tausch von Laufzeiten sind mir nicht zu Ohren gekommen. Wo blieben denn nun, frage ich mich, die Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden? Eine vertraglich zugestandene und durch Stilllegung anderer Kapazitäten erkaufte Restlaufzeit könnte von Auflagen o. ä. nicht mehr tangiert werden. Wenn das Kraftwerk mal steht, weil es repariert werden muss, wird die Zeit eben hinten wieder dran gehängt. Atomabteilungen in den Wirtschafts- und Umweltministerien, Bundesamt für Strahlenschutz und dergleichen würden arbeitslos, denn der ungestörte Betrieb wird vertraglich garantiert. In Wirtschaftsminister Müllers Vertragsentwurf von Mitte 1999 heißt es wörtlich: "Eine Ausnutzung der Restlaufzeiten wird ... nicht durch behördliche Interventionen gestört". Aktueller Stand von Sicherheit und Technik? - Nie gehört! Nachrüstung? Haha!!

Wir halten also fest: Der Restbetrieb soll nicht gestört werden und soll so kostengünstig wie möglich sein. Und: er ist so lang, dass mensch eigentlich gar nicht von RESTbetrieb sprechen kann. Wie errechnet, würde er sich auf ca. 20 Jahre belaufen, bezogen auf den Durchschnitt der nach dem Modell verbleibenden 15 AKWs. Das bedeutet z.B. folgendes:

1. Diese AKWs sind bereits im Schnitt ca. 15 Jahre in Betrieb. Sie würden also eine durchschnittliche Laufzeit von 35 Jahren erreichen. Habe ich irgendwo was von "Ausstieg" gehört?

2. Die genannten 15 AKWs hätten noch nicht einmal "Halbzeit". Frech!

3. Würde allen AKWs die gleiche Laufzeit zugestanden, würde das letzte ca. 2024 vom Netz gehen. In Wirklichkeit ist zu vermuten, dass ältere AKWs früher stillgelegt würden und neuere eher noch länger laufen würden. NOCH 30 Jahre Atomkraft?

Als Argumente für einen Konsens - die trotz der o.g. Tatsachen immer noch von Leuten vertreten werden, die von sich behaupten, sie seien gegen Atomkraft - , bleiben nach kurzer Diskussion in der Regel zwei übrig, die ich noch kurz betrachten will und die sehr stark zusammenhängen:

1. Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach.

2. Ohne Konsens dauert alles noch viel länger.

Zu 1.: Vier AKWs - nach anderen Verlautbarungen auch nur eines oder zwei - könnten innerhalb der nächsten drei Jahre stillgelegt werden. Dabei handelt es sich um alte, unwirtschaftliche AKWs, zu deren Daseinsberechtigung vermutlich gehört, dass sie immerhin noch als Verhandlungsmasse zur Durchsetzung des Weiterbetriebs anderer AKWs taugen. Und: es wird unmittelbar überhaupt kein AKW stillgelegt, also gibt es eigentlich gar keinen Spatz in der Hand.

Kommt überhaupt kein Geld raus

Zu 2.: Mit Konsens dauert es 25 oder 30 Jahre, bis das letzte AKW in der BRD stillgelegt wird. Wesentlich länger kann es gar nicht dauern, da schon damit die durchschnittliche Lebensdauer aller bisher aus technischen Gründen stillgelegten AKWs weit übertroffen wäre. Würgassen erreichte nur 24 Jahre, dann war es zu aufwendig, es sicherheitstechnisch nachzurüsten. Die Frage der Wirtschaftlichkeit von Nachrüstungen wäre mit einem Konsens aber hinfällig. Denn zum Konsens gehört, dass Behörden und Betreiber noch mehr als bisher in Frieden miteinander leben, während es bis dato doch hin und wieder möglich war, einen Keil zwischen die verschiedenen Fraktionen der Atommafia zu treiben. Dazu gehören auch die dezentralen Zwischenlager und die ungestörten Atomtransporte. Der ungestörte Weiterbetrieb wird also auch durch physische Fakten zementiert und der Anti-AKW-Bewegung Eingriffsmöglichkeiten genommen. So hat z.B. das AKW Obrigheim kein Entsorgungsproblem mehr, jedenfalls für die Zeiträume, in denen die Betreiber denken. Konsens bringt nichts und kostet uns viel. Im übrigen frage ich mich, warum die gehandelten Restlaufzeiten von Konsensanlauf zu Konsensanlauf länger werden. Denn - wie es in der Elbe-Jeetzel-Zeitung vom 9.12.99 heißt: "Beim ersten Versuch war noch von 20jährigen Ausstiegsfristen die Rede. Die galten damals als zu lang." Das war 1992!

Stefan Scheloske

ist im atomplenum Hannover aktiv.

"Der sofortige Ausstieg aus
der Atomenergie ist aus
Überlebensgründen notwendig und
gleichzeitig auch technisch und
wirtschaftlich machbar."

(aus dem Kongress-Reader "Atomenergie am Ende"
der Grünen NRW, 22./23.5.1993)


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